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Im Wohnungsamt nur Schulterzucken

■ In Leipzig herrscht die größte Wohnungsnot seit den zwanziger Jahren/ 36.000 Wohnungen faktisch nicht mehr bewohnbar/ 20.000 Menschen suchen eine Bleibe

Leipzig (taz) — „Es wäre ja schön, wenn uns das Dach auf den Kopf fallen würden. Dann wüßte ich wenigstens, daß ich eine Wohnung habe.“ Hans K., Saisonarbeiter im Baugewerbe, sucht seit drei Jahren eine Wohnung in Leipzig. „Die im Wohnungsamt zucken nur mit den Schultern, obwohl ich denen zig leerstehende Wohnungen gemeldet habe, in die ich einziehen möchte.“

Momentan ist er im neu eingerichteten Obdachlosenheim in der Queckstraße untergeschlüpft. Zusammen mit seinen Zimmergenossen ließ er sich gestern im Foyer des Neuen Rathauses nieder — demonstrativ vor den Schautafeln der Ausstellung „Bauen und Wohnen in Leipzig“. Ein paar Meter weiter, im frisch renovierten Plenarsaal, tagte das Stadtparlament. Thema der letzten Sondersitzung vor der Sommerpause: Wohnungsnot. Die Obdachlosen blieben außen vor, während die Stadtverordneten in der achtstündigen Marathonsitzung über kommunalen Wohnungsbau und Sanierungskonzepte debattierten. „Leipzig verzeichnet die größte Wohnungsnot seiner Geschichte“, bilanzierte die 'Leipziger Volkszeitung‘ das Ergebnis der Sitzung. Das Baudezernat ließ Zahlen sprechen: Fehlten in den inflationären zwanziger Jahren knapp vier Prozent Wohnungen, sind es heute an die sieben Prozent. Von den derzeit 280.000 belegten Wohnungen sind 36.000 unter baupolizeilichen Vorgaben faktisch nicht mehr bewohnbar. Fast die Hälfte weist größere Baumängel auf. Die Zahl der leerstehenden Wohnungen stieg 1990 von 13.700 auf 21.500. Über 20.000 Menschen suchen in der Messestadt eine Wohnung, bei einer Bevölkerung von knapp 500.000 sind das über vier Prozent.

Als zwingend notwendig bezeichnete die SPD-geführte Stadtregierung die Sanierung von mindestens 100.000 Wohnungen, vor allem im Bereich des städtisch-subventionierten Wohnungsbaus. So hat man in der Stadt 18 Sanierungsgebiete ausgewiesen, von denen sechs auf der Dringlichkeitsliste obenan stehen. Darunter findet sich auch der Stadtteil Connewitz, ausgezeichnet durch zum größten Teil über hundertjährige Bausubstanz. In die Schlagzeilen geriet Connewitz in Nachwendezeiten durch eine Vielzahl von Hausbesetzungen, die die Stadtverwaltung notgedrungen duldete. Ein spruchreifes Sanierungskonzept gibt es bislang nicht, wie die Fraktion Bündnis 90 auf der Stadtverordnetensitzung heftig kritisierte. Die Eigentumsfrage scheint hierbei keine große Rolle zu spielen, befinden sich noch über die Hälfe aller Wohnungen in kommunalem Eigentum. Bislang wurden der Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft, die den „volkseigenen“ Wohnungsbestand (52 Prozent) verwaltet, Kredite von 370 Millionen Mark für sofortige Sanierungsmaßnahmen zur Verfügung gestellt. Ein Tropfen aufs kaputte Dach: Noch dieses Jahr sollen 60 Wohnungen saniert werden, 1992 sind 1.600 avisiert. nana

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