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Scheibengericht: Wolfgang Amadeus Mozart

Warum sind CDs eigentlich so teuer? Zwischen zwanzig und vierzig Mark muß man rechnen, je nachdem, ob es sich um ein Sonderangebot handelt oder um eine Neuveröffentlichung und je nach Plattenladen. Und warum sind sie immer noch teurer als Platten aus Vinyl? An den Materialkosten kann es nicht liegen. 2,50 Mark, so sagt man, muß heute eine Plattenfirma noch für eine CD ab Werk zahlen — und zwar inklusive Bespielung, Qualitätskontrolle, Beiheft und Verpackung. Darin sind die Kosten für Produktion, Vertrieb und Werbung, die Honorare und Gebühren natürlich nicht enthalten.

Es gibt aber auch Aufnahmen, wo sich selbst diese Kosten weitgehend reduzieren lassen — die alten. Ein viel beraunter und bestaunter Trend wird dadurch in neues Licht gestellt. Es ist ja paradox — genau in dem Moment, wo durch die Digitalisierung die Tonträger restlos hinters musikalische Ereignis zurücktreten, werden sie sich selbst zum Museum. Was bisher einigen wenigen Plattensammlern und auf Ausgrabungen spezialisierten Kleinlabels vorbehalten war, wird nun auch für die großen Häuser zum kommerziellen Faktor. Die Hörer kaufen sich einerseits High- End-Stereoanlagen und andererseits CDs, auf denen der Nebengeräuschpegel der Grammophone als Ausweis interpretatorischer Authentizität mitgeliefert wird.

Der Trend — spontane Änderung des Käuferverhaltens oder Kalkül der Industrie — hat zugleich beide der kulturell so getrennten, kommerziell aber von exakt denselben Firmen vertriebenen U- und E-Musik-Sparten ergriffen. Einer Flut von Soul-Samplern und den Gesammelten Werken von Marlene Dietrich bis Tim Buckley stehen Caruso, Lipatti, Mengelberg und Callas gegenüber — die CD für 2,50 Mark ab Werk.

Auch die Präsentation gleicht sich in beiden Sparten. Oft ist sie lieblos. Selten finden sich seriöse Kommentare, bei Opern fehlen neuerdings gar die Libretti. Allzuhäufig aber werden irgendwelche Verfahren zur elektronischen Aufbereitung des Originalklangs angepriesen, die den überhöhten Endpreis rechtfertigen sollen.

Trotzdem fragt sich, ob der Trend ausschließlich im Interesse der Industrie liegen kann. Es könnte ja passieren, daß die Hörer die musikalischen Ereignisse plötzlich nicht mehr nach Wattzahlen, Spannungsabständen und Klirrfaktoren beurteilen, sondern eben nach musikalischer Qualität. Wie oft fallen nicht neue Produktionen, die sich erst noch amortisieren müssen, gegen die alten ab. Auch dies gilt für beide Sparten. Die Vergangenheit macht der Gegenwart Konkurrenz, die Industrie sich selbst.

Zwei CD-Wiederveröffentlichungen von Mozarts Cosi fan tutte sind im letzten Monat auf den Markt gekommen: Fritz Busch hat die Oper 1935 aufgenommen, die Studioproduktion beruht auf einer berühmt gewordenen Inszenierung bei den gerade gegründeten Festspielen von Glyndebourne. Von den Diskographen wird diese erste Gesamtaufnahme der Cosi immer noch am höchsten geschätzt. Und Georg Soltis Studioproduktion stammt von 1974.

Karajans Cosi entstand 1954 im Anschluß an eine Salzburger Aufführung und liegt schon seit drei jahren auf CD vor. Barenboim hat seine Neuaufnahme im letzten Jahr herausgebracht. Sie wurde übrigens für den Rias von Georg Quander koproduziert, der dem designierten künstlerischen Leiter der Berliner Lindenoper als Intendant zur Seite treten wird.

Äußerlich lassen sich im Vergleich zwei Paradoxien feststellen: Soltis Aufnahme ist klanglich und dynamisch reicher, räumlich differenzierter als die im angeblich überlegenen digitalen Verfahren eingespielte von Barenboim. Und Buschs Aufnahme ist technisch ebenfalls kaum schlechter als die etwas verhangen klingende Karajan-Interpretation, die vom berühmten Walter Legge produziert wurde. Allerdings wird bei Busch lauter gesungen und gespielt, vielleicht wegen der noch weniger empfindlichen Mikrophone.

Bei Busch werden die Rezitative noch mit dem Klavier begleitet. Die Schnitte greifen bei ihm am tiefsten, sind aber gut verteilt. Gekürzt wurde nicht nur in den Rezitativen, sondern auch innerhalb mancher Arien und Ensembles, ein paar Stücke fehlen ganz. Karajan hat vor allem in den Rezitativen gestrichen, genauer: Er hat sie fast zur Unkenntlichkeit verstümmelt. Barenboim hat die Cosi fast komplett eingespielt — nur Solti ist vollständiger, bei ihm fehlt nicht einmal das oft ausgelassene Duettino zwischen Ferrando und Guglielmo aus dem ersten der beiden Akte.

Musikalisch sind alle vier Aufnahmen auf der Höhe der Komposition, sofern das bei Mozart möglich ist. Keine patzt, keine versagt. Allerdings stehen sich zwei verschiedene Konzeptionen der Oper gegenüber, eine eher ästhetizistische und eine eher musikalische. Erstere wird von Karajan vertreten, letztere von Busch und Solti. Barenboim ist ein Gemäßigter.

Deutlich machen läßt sich der Gegensatz an der Figur der Fiordiligi, der Primadonna in einem Ensemble von sechs Gleichen. Sie ist die heftigere der beiden Schwestern, die von ihren verkleideten Liebhabern auf ihre Standhaftigkeit überprüft werden und sich als untreu erweisen. Der Philosoph Don Alfonso hat auf diese Untreue gewettet und hält die Fäden der Intrige in der Hand, Despina, die Zofe der Schwestern, assistiert ihm beim grausamen Spiel.

Fiordiligi hat zwei große Arien im ersten und zweiten Akt, Come scoglio und Per pietà, die beide von Accompagnato-Rezitativen eingeleitet werden. Besonders Come scoglio („Wie ein Fels“) steht da wie ein schwergewichtiger Überrest der Opera-seria-Tradition im filigranen Rahmenwerk der Buffo-Oper. Nichtsahnend beschwört Fiordiligi darin nach einem ersten Annäherungsversuch der verkleideten Liebhaber ihre Treue zu Guglielmo — ein Bravourarie, die der Sängerin einen Umfang von über zwei Oktaven vom kleinen a bis zum dreigestrichenen c, rasante Koloraturen, Sprünge über anderthalb Oktaven abfordert.

Respektable Mozart-Forscher sahen wegen der Übergröße des Pathos in dieser Arie parodistische Absichten am Werk. Ein unsensibles Argument, das weder durch den Text noch durch die musikalische Faktur der Arie belegt wird. Etwas wie Ironie kommt nur durch die Deplaziertheit im äußeren Zusammenhang und in der Gattungstradition ins Spiel. Fiordiligi jedenfalls meint, was sie singt. Vielleicht weiß sie nur nicht, was sie meint. Schließlich ist sie erst 15. Ihre Vorstellung von Beständigkeit mag tiefempfunden sein, aus Erfahrung gespeist ist sie bestimmt nicht.

Auf keiner der vier Aufnahmen wäre die Sängerin so abgeschmackt, die Forscherthese etwa durch aufgesetzte Buffo-Seufzerchen oder andere willkürliche Applikationen zu unterstützen. Die Arie ist auch zu schwer. Sie singen sie als Seria-Arie. Unübertrefflich schön Elisabeth Schwarzkopf bei Karajan — die mezza voce in der hohen Lage, das Portamento über anderthalb Oktaven, die Geläufigkeit, die Intonationssicherheit in den Sprüngen, die leise Attacke der Spitzentöne und Kraft zur Wölbung, die Sicherheit des Ausdrucks: Sie singt virtuos, aber — trotz ihres etwas metallischen Timbres — nicht kalt, hinreißend. Aber singt sie Fiordiligi? Bei ihr ist sie mindestens 25.

Musikalisch reicht keine der Konkurrentinnen an Schwarzkopf heran. Wahrer, wenn auch längst nicht so schön, singt nur Ina Souez bei Busch. Ihre Stimme ist gewissermaßen zu klein für den monumentalen Affekt — als wäre sie noch nicht soweit. Die tiefen Töne hören sich an, als imitierte da ein kleines Mädchen das Psalmodieren eines Priesters. Man sieht förmlich, wie sie das Kinn in die Brust drückt, um sich mit geliehener Würde, darum aber nicht weniger anmutig, der kleinen a's zu bemächtigen. Sie sind zu schwach, um felsenfeste Treue auszudrücken.

Mag sein, daß diese dramatische Wahrheit aus einem technischen Problem herrührt. Mit dem Argument, der dramatische Eindruck zähle mehr als vokale Souveränität, müsse man vorsichtig sein, schreibt Kesting in seiner Callas- Biographie. Damit „läßt sich letztlich auch der musikalische Dilettantismus, der in technischer Unfertigkeit begründet liegt, rechtfertigen“.

Aber Souez' Fiordiligi meint es ernst, sie hat Charme, und sie ist 15. Dilettantin ist Souez übrigens nicht. Sie fügt sich genau in Buschs Konzept des singenden Spielens — dieser ewigen, widersprüchlichen und selten verwirklichten Forderung von Oper. Busch treibt allein durch die mehr gesprochenen als gesungenen Rezitative, die wunderbarerweise trotzdem immer stimmen, die Handlung voran. Überhaupt ist die Artikulation des Italienischen in den frühen Aufnahmen wesentlich deutlicher.

Karajan hat allerdings anders als Busch für die Rezitative nichts übrig und läßt sie fast ganz weg. Sie stören seine Stilisierung auf Linie und musikalischen Fluß, die zwar in den schwelgerischen Passagen der Oper atemberaubend schöne Resultate zeitigt, weil er die besten Sänger hat, aber am Werk vorbeizielt. In den dramatischen Momenten nämlich ist Karajan ein Langweiler, da ist sein Ästhetizismus einfach nicht zugkräftig. Er wird ihn im Lauf seiner Karriere zu jenem aerodynamischen Turbo- und Glattheitsideal führen, das in seinen späten Aufnahmen alles Widerständige — die Musik — unter sich begräbt.

Solti — ideologisch ebenso ein Reaktionär wie Karajan — ist musikalisch intelligenter. Und er ist dramatisch genauer und plastischer als der notentexttreue Barenboim. Solti macht, wovon Barenboim in seinem Beiheft redet: „Die Partitur wurde in der Ausrichtung auf das Theater interpretiert.“

Man vergleiche nur das Sextett im ersten Akt. Drei Handlungsfäden und Affekte werden hier verknüpft. Erstmals drängen die verkleideten Liebhaber ins Haus der Mädchen. Diese sind empört über die unangemeldete Anwesenheit fremder Männer. Despina und Don Alfonso inszenieren und kommentieren die Situation.

Den Forte-Akzent nach dem Einleitungstakt der Geigen nimmt Solti als einen überlauten Schlag, Barenboim als zur musikalischen Phrase gehörig. Bei Solti sagt das Orchester: Hier fängt die Aktion an, bei Barenboim spielt es ein Stück Musik. Die kleinste orchestrale Geste hat bei Solte einen deutlichen Bezug zur dramatischen Situation, wo sie bei Barenboim nur anonyme Begleitung ist. Auch die Sänger schaffen es bei Solti, durch Nuancen des Stimmklangs und der Artikulation das A-Parte- Singen vom Dialog zu scheiden. Bei Barenboim singen sie ein Ensemble. Bei Solti hat das Sextett musikdramatischen Drive, bei Barenboim fließt es — wie bei Karajan, nur daß Barenboim nicht dessen Sänger hat. Das gleiche gilt für die Rezitative. Barenboim macht dazu intelligente Bemerkungen im Beiheft. Aber wo in seiner Aufnahme nur ehrenwert ist, daß sie nicht gestrichen wurden, treiben sie bei Solti Spiel und Handlung voran.

Da es sich bei Soltis Cosi um eine Wiederveröffentlichung handelt, dürfte sie im Laden auch billiger sein.

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