NS-Prozeß in Kassel eröffnet

Ex-Polizist wegen Beihilfe zur Ermordung von 30 Sinti und Roma in der Ukraine angeklagt  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Kassel (taz) — Der alte Mann kämpft mit den Tränen: „Es tut mir leid, daß die Menschen damals umgekommen sind. Wenn ich etwas unternommen hätte, wäre ich selbst schon 49 Jahre im Grab.“ Der alte Mann (73) ist seit zehn Jahren Rentner, heißt Michael Scheftner und muß sich seit gestern vor der 2. Strafkammer des Landgerichtes Kassel dafür verantworten, daß er sich 1942, in einem Dorf in der Ukaine, der „Beihilfe zum Mord an dreißig Sinti und Roma“ schuldig machte — so die Anklageschrift. Der 1918 in einem „deutschen“ Dorf in Sibirien geborene Scheftner soll als Polizist zwei SS-Angehörigen bei der Erschießung von Männern, Frauen und Kindern „assistiert“ haben, und — wie Zeugen bei ihrer polizeilichen Vernehmung aussagten — auch selbst eine Pistole in der Hand gehabt haben.

Daß es 49 Jahre nach der Bluttat überhaupt zum Prozeß kommt, ist zum einen der Hartnäckigkeit des Zentralrates der Sinti und Roma zu verdanken, der das hessische Justizministerium wiederholt auf den „Fall Scheftner“ aufmerksam machte — zum anderen einer Entscheidung des Oberlandesgerichts (OLG) Frankfurt, das eine Ablehnung der Eröffnung des Hauptverfahrens letztinstanzlich aufhob. Die 4. Strafkammer hatte eine Verfahrenseröffnung verweigert, weil sie zu der Auffassung gelangt war, daß das Delikt „Beihilfe zum Mord“ der Verjährung unterliege. Das OLG entschied dagegen, daß Völkermord nicht der „Verfolgungsverjährung“ unterliege.

Am ersten Verhandlungstag erklärte der theatralisch auftretende Kammervorsitzende Kurt Gemmer, daß er hoffe, daß der Prozeß in der kommenden Woche in seine entscheidende Phase gehen könne, „dann, wenn die Russen hier erscheinen“. Die Russen — das sind drei Zeugen aus der Ukraine, die von einem Staatsanwalt begleitet werden. Richter Gemmer: „Das muß so eine Art Krankenschwester, Oma oder Tante sein, weil das sind doch alles schwer gebrechliche Leute. Und wenn die vom hinterm Ural einen Zug pfeifen hören, dann kriegen die doch schon Angst.“ Bei den ZuhörerInnen nicht nur aus den Reihen der Sinti und Roma stießen die scharf vorgetragenen Einlassungen des Kammervorsitzenden auf Unverständnis und Kopfschütteln. Der Zentralratsvorsitzende Romani Rose erklärte, daß es den Roma und Sinti nicht darum gegangen sei, „diesen alten Mann hier vor Gericht zu zerren“. Rose: „Es geht hier nur darum, daß sich die deutsche Justiz endlich ihrer Verantwortung bei der Strafverfolgung der Verbrechen an Sinti und Roma stellt.“ Ob Richter Gemmer dieser Verantwortung gerecht werden kann, bezweifelten gestern allerdings fast alle AugenzeugInnen der Verhandlung.