: Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes!
■ Herr Minister, meine verehrten Damen und Herren!
Letzte Woche wurde in Düsseldorf ein vierwöchiges iranisches Kulturfestival eröffnet, auf dem die Künste und das Handwerk des Landes dem Publikum nähergebracht werden sollen. Das Festival, organisiert und finanziert von der Stadt Düsseldorf, der Thyssen AG und dem Iranischen Kultusministerium, wurde mit dem üblichen Reigen von Ansprachen und Musik eröffnet. Besonders freuen wir uns, hier die Rede des Ministers für Kultur und Islamische Führung, Seied Mohammad Khatami, dokumentieren zu können, der sich in seiner Ansprache auch an den anwesenden Minister für Wissenschaft und Bildung, Herrn Ortleb, wendet. Leider kam man nicht dazu, auch über den Fall Rushdie zu sprechen. Dennoch kann diese Rede wohl auch als ein Beispiel für den internationalen gedanklichen Austausch gelten, bei dem unsere Minister wie die der anderen „im Meer des Daseins Perlmutt- und Fischfang betreiben“.
Die Veranstaltung des iranischen Kunstfestivals in der Bundesrepublik Deutschland kann die menschlichen und kulturellen Beziehungen unserer beiden Völker erweitern und vertiefen. Sollte dies gelingen, so haben die Künstler ihr wichtigstes Ziel erreicht. Wenn wir schon von dem Ziel und der Absicht der Künstler sprechen, so wäre es angebracht, wenn wir kurz bei diesem Thema verweilen. Darüber hinaus möchte ich einige Gedanken über die Bedeutung des Verstehens eines Kunstwerks und dessen Unterschied zu anderen Verstehensvorgängen vortragen.
Die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen menschlicher Gesellschaften werden stets auf der Grundlage des Mehrgewinns für die eigene Seite geregelt. Doch der künstlerische Dialog bedarf einer ernsthaften Bemühung um das Verstehen und um die Erlangung einer gewissen Einheit mit dem Motiv des Kunstwerkes.
Betrachtet der Mensch ein echtes Kunstwerk, so ist er nicht auf der Suche nach Gewinn, Macht, Herrschaft und dergleichen, sondern er versucht, im Augenblick dieser Begegnung den Sinn des Kunstwerkes zu verstehen. Doch dieses Verstehen unterscheidet sich von dem Verstehen mathematischer, logischer, philosophischer und physikalischer Probleme. Nach dem Verstehen eines philosophischen oder physikalischen Problems ist die geistige Arbeit des Denkers bereits zu Ende. Danach versucht er, neue Informationen auf der Grundlage des verstandenen neuen Problems zu gewinnen und zwischen diesem Problem und seinen anderen Erkenntnissen eine Verbindung herzustellen. Der Mensch ist auf der Ebene des wissenschaftlich-philosophischen Verstehens eine Art Händler. Er handelt mit seinem Wissenskapital.
Es ist gewiß nicht meine Absicht, die Wissenschaft und die Philosophie und in deren Folge die Wissenschaftler und Philosophen herabzuwürdigen. Ich möchte lediglich die verschiedenen Ebenen des Verstehens klarmachen. Dieses Erwerbs- und Gewinnstreben des wissenschaftlichen und philosophischen Denkens ist vielleicht das, was Moulana Jalal ad Din als „Gharaz“ (Zweck) bezeichnet. Er sagt: „Wenn der Zweck hinzukommt, so bleibt die Kunst verhüllt.“ Wir müssen allerdings wissen, daß die Kunst in Moulanas Sprachgebrauch einen sehr viel weiteren Sinnbereich erfaßt als den heutigen.
Das logisch-wissenschaftliche Erkenntnisstreben ist das genaue Zweckdenken. Wenn der Logiker mit einer logischen Fragestellung keinen bestimmten Zweck verfolgt, hat er sich unlogisch verhalten. Doch der Künstler und in dessen Folge der Betrachter eines Kunstwerkes suchen zwar in einem allgemeinen Sinne etwas und verfolgen eine Absicht, doch sie streben nach keinem Gewinn aus einem Kunstwerk. Ihre eigentliche Absicht ist nicht einmal der Kunstgenuß, denn der Genuß des Kunstverstehens gehört zu den sekundären Folgen dieses Verstehens und nicht zu dessen Endzielen.
Die Wissenschaftler und Philosophen betreiben im Meer des Daseins Perlmutt- und Fischfang. Die Künstler aber fangen die Musik der Wellen ein. Gewiß, die Wirklichkeit der Welt und die Welt der Wirklichkeit sind nicht zu leugnen. Was aber heutzutage geleugnet wird, in Vergessenheit gerät und in dem System der menschlichen Weltanschauung immer weniger Beachtung findet, ist das künstlerische, intuitive und religiöse Verstehen.
Ich schlage den westlichen Gelehrten, insbesondere den Orientalisten, vor zu versuchen, die großen Werke des Orients über das subjektive und rationale Verstehen hinaus auch durch das künstlerische Verstehen zu begreifen. Wenn sich der Westen um das künstlerische Verstehen, das heißt um die Einmütigkeit und Harmonie mit dem Osten bemühen würde, so wäre die menschliche Einigkeit auf der höchsten Ebene, die das Endziel eines jeden humanistischen Denkers ist, nicht sehr weit und erreichbar.
Die künstlerische Kommunikation entsteht weniger durch das Sagen als durch das Hören. Das richtige Hinhören bedarf der Bescheidenheit. Die Bescheidenheit ist die menschlichste Eigenschaft, die die Einmütigkeit mit der orientalischen Kunst zur Folge haben wird. Und die Bescheidenheit ist in der Tat die Bedingung für den Eintritt in den orientalischen und darunter auch in den islamisch-iranischen Kunsttempel. Sie wissen sicherlich, daß man die Schuhe ausziehen muß, wenn man eine Moschee betritt.
Unsere heilige Schrift fordert alle Gläubigen der Offenbarungsreligionen zur Einheit auf. Die Bedingung einer solchen Einheit ist jedoch die Ablehnung jeglicher Herrschaft einer Gruppe über andere. Ist die Aufforderung zur Ablehnung einer solchen Herrschaft nicht etwa auch Aufforderung zur Bescheidenheit und zum künstlerischen Verständnis?
Ich danke Ihnen!
Seied Mohammad Khatami
Minister für Kultur und Islamische Führung
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