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Lily Bitter spricht sich aus

Karin Struck verfolgt „Blaubarts Schatten“  ■ Von Elke Schmitter

Eine mehrfache Mutter hat abgetrieben. Die Erinnerung daran sucht sie so lange heim, bis sie sich selbst erinnern will: Warum sie abgetrieben hat, und wen sie eigentlich töten wollte. Sie macht sich und dem Vater den Prozeß, sie macht ihn auch der BRD von 1976: man hat es ihr nicht nur zu leicht gemacht, man hat sie dazu getrieben. Man hat ihr und sie hat sich ein Leid zugefügt, das nicht mehr gutzumachen ist.

Wer leidet, hat recht. Zur Entfaltung und zum Beweis dieses Satzes ist einiges an Literatur entstanden, und die autobiographisch inspirierte ist nicht die schlechteste darunter. Wer leidet, hat recht: eine psychologische Einsicht, keine logische, deshalb gehört sie zur Literatur — als sentenziöser Ausdruck derselben Raserei, die Klytämnestra, Kohlhaas und Fritz Zorn verbindet. Die autobiographische Literatur, die um diese Einsicht kreist, ist noch weniger als jede andere um Gerechtigkeit, um Kompromiß bemüht: das schert sie nicht und ist nicht ihre Aufgabe. Wenn ihr statt dessen gelingt, die LeserInnen auf ihre Seite zu ziehen, sie an der Raserei zu beteiligen, sie für die Dauer der Lektüre und darüber hinaus radikal zu vereinzeln — gegen die herrschende Sittlichkeit, gegen die gültige Rechtsordnung, gegen die kommode Praxis — dann ist ihr alles gelungen.

Karin Struck hat, von ihrem letzten Ausflug ins Gewerkschaftswesen unter dem Titel Bitteres Wasser abgesehen, nie anders geschrieben als von dieser Einsicht aus. Die Unruhe, die sie als Figur und mit ihren Büchern in der bundesrepublikanischen Gesellschaft auslöste, hat damit wesentlich zu tun. Entgegen dem von ihr behaupteten Gestus der Schriftstellerin, die Goethe werden will, sind ihre Texte immer anders verstanden worden: als einsame, um sich selbst kreisende Bekenntnisse einer, der fortwährend Unrecht geschieht — und die darauf besteht, daß die Wunden, die man dem Mädchen aus kleinen Verhältnissen, der unsicheren Studentin, der exemplarisch weiblichen Autorin geschlagen hat, bitte die Gesellschaft verbinden möge. Ihre Texte waren eben deshalb von Bedeutung, weil sie keine ganzen Geschichten erzählten, keine übergreifende Wahrheit vorwegnahmen: Hier leide ich, ich kann nicht anders. Und ihr, die ihr mich verletzt habt und mich nicht heilen könnt, ihr sollt zumindest meine Klage hören.

Die Bereitschaft, mit der die Öffentlichkeit als Feuilleton, Leserschaft und Talk-Show-Publikum die Klage ursprünglich aufnahm, erscheint im Rückblick weniger voyeuristisch als schuldbewußt und sogar auf rührende Weise ehrlich. Wenn Karin Struck sich über die Möglichkeiten des klitoralen statt vaginalen Orgasmus öffentlich mit sich aussprach, wenn sie mit Hildegard Knef über Tod und Brustkrebs verhandelte, dann hörte man gebannt zu, dann wurde da geschrieben und gesprochen, als gälte es tatsächlich etwas.

Daß die siebziger Jahre vorbei sind und die achtziger ein endgültig ausgelaufenes Modell, das kann man auch an dem Verfall der Wirksamkeit einer Person wie Karin Struck festmachen: Wo vor zehn und fünfzehn Jahren das rücksichtslose Sprechen über sich selbst, über andere Lebens- und Liebesformen, über die Schädigungen des einzelnen am Allgemeinen noch mit schaudernder Aufmerksamkeit honoriert wurde, hat nun der öffentliche Diskurs seine Verkehrsformen gewechselt. Wer heute über Beziehungsformen reflektiert, der tut das ratgeberisch oder statistisch, nicht mehr schonungslos als Ich; und er spricht nicht mehr vom Leiden, sondern vom Bestehen. Die Unsicherheit des modernen Menschen bezogen auf die Grundfragen Leben, Liebe, Tod ist so sprichwörtlich geworden, so sehr Voraussetzung allen Sprechens, daß es schon peinlich ist, sie noch mal zum Thema zu machen: im Hause des Gehenkten spricht man nicht vom Strick.

Karin Struck spricht nicht nur vom Strick, sondern auch von Henker und Gehenktem. Sie durchbricht, einmal mehr, eine Abmachung des Schweigens, wenngleich sie zielsicher mit einem permanenten Diskurs zusammenstößt: dem über die Fristenlösung, die sie in Anführungszeichen setzt wie weiland die Rechtspresse die DDR.

Natürlich wird sie abgemahnt, vorzugsweise von der Frauenbewegung, für die das Recht auf Abtreibung ein sogenanntes Essential bildet— aber auch von der Mehrheitsgesellschaft, vertreten durch jene vorzugsweise männlichen Politiker, die sich in der Diskussion um den Paragraphen 218 ziemlich gemütlich eingerichtet haben. Man mahnt sie ab und wird damit vermutlich wenig erfolgreich sein: es gibt auch hierzulande Gruppen, für die das neue Buch der Struck willkommener Beweis sein wird für die so wunderbar griffige Formel, Abtreibung sei Mord.

Es ist nichts einzuwenden gegen den literarischen Versuch, eine Abtreibung zu begreifen, ihre Folgen zu beschreiben — nicht einmal, daß er bestimmten Gruppierungen dient, die nicht gerade zur liberalen Avantgarde zählen. Im Rahmen literarischer Absichten allerdings ist der Versuch unübersehbar mißlungen, grotesk an allem vorbeigeschrieben, was man der Gattung „Roman“, zu der der Verlag den Text euphemistisch rechnet, noch zuschlagen mag.

Blaubarts Schatten ist ein schlecht vernähtes Patchwork von Stimmen, die sich zu Gehör bringen wollen und das in bedenkenlos schlichten und unschönen Sätzen tun. Da erinnert sich die Stimme eines kleinen Mädchens, das von der Mutter zu wenig und vom Vater vor allem mißbrauchend geliebt wurde und dem man sagt: Du sollst es nicht merken. Da klagt die Stimme der Erwachsenen über den anhaltenden Mißbrauch des Vaters an seiner Tochter, der er — als Frau — die Verfügung über das zu erwartende Erbe bestreitet. Da verurteilt die Stimme der ehemaligen Geliebten den verheirateten Vater jenes Kindes, das sie mit seiner Zustimmung abgetrieben hat. Da seziert die Stimme der Heutigen die masochistischen Begierden des letzten Geliebten, der, zum Vater ihres letzten Kindes geworden, sich als Sadist erweist. Da heult und brüllt die Stimme der vierfachen Mutter der Gesellschaft in die tauben Ohren, daß deren Anteil am Verbrechen Abtreibung totgeschwiegen werde. Und da beschwört schließlich die endlich Niedergekommene, zu der das schöne deutsche Wort sie macht, den Letztgeborenen um Zuversicht: „Ich sprach mit David vor seiner Geburt: Kindchen, mein Kindchen. Noch bist du im Fruchtwasser, dich trocknet keiner aus, sie durchstechen nicht deine Schutzhülle, sie reißen dir nicht die Plazenta weg, die dich nährt, niemand wird dich zerstückeln; nur über meine Leiche. Kindchen, mein Kindchen, sei ruhig. Die falschen Götter haben ausgespielt.“

Karin Struck schreckt, wie gewohnt, vor keinem Klischee des Empfindens, vor keiner Brutalität der Sprache, vor keinem Verzicht aufs Denken zurück. Ihr Text ist voller Nachlässigkeiten, Wiederholungen, Peinlichkeiten und Brüche, roh und unfertig, ein Rasen über das hinweg, was eigentlich mitgeteilt werden soll. Es ist der Text einer Ausgesperrten, und so ist es mehr als Zufall, daß eines der wenigen Bilder, die sie bemüht, „Blaubarts Zimmer“ ist: der Raum, den seine Frauen nicht betreten dürfen bei Androhung und Vollstreckung ihres Todes; der Raum, in dem die Gesellschaft ihre patriarchale Ordnung bewahrt und der den Opfern dieser Ordnung verschlossen bleiben muß. Was Karin Struck in diesem Raum findet, geht allerdings über das hinaus, was unter dem Etikett der patriarchalen Gewalt längst, wenn auch wirkungslos, ausgemacht ist in unserer Gesellschaft: für sie sind nicht die Frauen die Opfer der Ordnung, sondern die abgetriebenen Föten, die Opfer der Opfer.

Daß Karin Struck sich nicht für eine Form entscheiden konnte, daß ihr Text ein Konglomerat darstellt aus Fiktion und Erinnerung, Erzählung und Pamphlet, gespickt mit offenen Briefen (und einer Klatschgeschichte über jenen Bürgermeister, dem der Kontakt zu dichtenden Frauen offenbar Schicksal und Verhängnis ist) — all dies kann zwar gegen das Buch eingewandt werden, ist aber nicht belangvoll. Wenn Literatur auch die Funktion hat, etwas Verschwiegenes zur Sprache zu bringen, hat dieser ungefügte Text seine Mission erfüllt; da muß die Germanistik passen.

In der wilden Mischung aus Moralpredigt, autobiographischer Erzählung und Klagelied aber finden sich auch argumentierende Passagen— ein Indiz dafür, daß die Schriftstellerin Struck diesmal alle Rücksichten fahren ließ und, vermutlich in der klugen Einsicht, daß ihr Text sprachlich beschämend ungenau und ungenügend ist, eigentlich auf eine Erörterung zielt. So tauchen, je nach Laune der Protagonistin mit dem schönen Namen Lily Bitter, Argumente der Frauenbewegung wie der Wissenschaft und Schlagworte der offiziellen Politik auf, um nicht widerlegt, sondern abgefertigt zu werden: mit der wilden Empörung einer Medea, die stammelnd ihr Unrecht gesteht und dem Publikum seine Mittäterschaft ins Gesicht schleudert.

In einer gesellschaftlichen Situation, in der mit der erneuten Debatte um den Paragraphen 218 nicht über Moral gesprochen wird — das könnten nur Individuen, die von sich sprechen statt von anderen, was unsere politische Sprache nicht zuläßt —, sondern ein Bereich erkämpfter Liberalität erneut zunichte gemacht werden soll, ist diese Mischung verhängnisvoller als sonst. Die Trennung zwischen der moralischen Sphäre und der politischen wird zum Schaden beider aufgehoben. Anstatt darüber zu diskutieren, wie eine Gesellschaft beschaffen ist, in der die Kinderselbstmorde steigen, Kindesmißbrauch an der Tagesordnung ist und kein Gesetz den Eltern verbietet, ihre Kinder zu schlagen, sollen wir uns mit Karin Struck in jene Tiefen des Schuldgefühls begeben, die mit all dem angeblich nichts zu schaffen haben. Eine Gesellschaft, in der die Verhütung, die Obsorge und die Erziehung in neun von zehn Fällen der Frau obliegt, in der die Mädchen aus den wenig gebildeten Schichten oft genug den Frauenarzt zum ersten Mal im Kreißsaal sehen; eine Gesellschaft, die nicht Empfängnis- und Eltern-, sondern Abtreibungsberatung vorschreibt, ist für einen moralischen Diskurs nicht vorbereitet.

Karin Struck hätte, wenn sie einen solchen initiieren wollte, ein anderes Buch schreiben müssen. Sie selbst sieht es vermutlich gegenteilig: „Erinnerung“, schreibt sie, „ist meine Aufgabe.“ Sie hätte „Mahnung“ schreiben sollen. Erinnerung ist, wo nicht reflektiert, schutzlos und ein zartes Gewebe. Karin Struck aber ist gerüstet.

Karin Struck: Blaubarts Schatten. List Verlag, 340Seiten, gebunden, 39,80 DM

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