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Verfinsterung der Herzen

■ Premiere im Schauspielhaus: „Nachtwache“ von Lars Norén, Andras Fricsays letztes Stück in Bremen

Strindberg stand Pate bei dieser dramatischen Versuchsanordnung: Charlotte und John, seit neun Jahren ein Paar, haben Johns Bruder Alan und seine Frau Monika zu Gast. Das Geheimnis einer Plastiktüte ist die Urne von Johns und Alans eingeäscherter Mutter. In der Nacht nach der Einäscherung wird viel gesoffen, und die Urne steht daneben, wird herumgekegelt, geküßt oder beweint. Mit wollüstiger Grausamkeit und handfester Komik werden Beziehungen und Porzellan zerschlagen. Mit dem anbrechenden Tag kehrt die Einsamkeit ein.

Eine lange „Nachtwache“ hatte am Samstag im Schauspielhaus Premiere. Das Stück für ein gemischtes Doppel des als Strindberg-Nachfolger gefeierten schwedischen Autors Lars Norén inszenierte Oberspielleiter Andras Fricsay Kali Son zum Auftakt der neuen Theatersaison als Boulevard-Tragödie. Viereinhalb Stunden sattes Theater der hungrigen Herzen in einem von Sponsoren mit echtem High- Tech-Prunk bereicherten Bühnenbild, das Fricsay zusammen mit dem Bremer Innenarchitekten Bernd Elfers gestaltete.

Den Psychoklempner John spielt Andreas Grothgar als einen geschwächten Souverän, als den kleinen Bruder und wilden Mann, dem es nicht mehr gelingen will, seine Charlotte zu verführen und seine Versuche letzthin — wie die ganze Beziehung — aufgibt. Charlotte, Heidemarie Gohde, spielt mit ihm sadomasochistische Verführungsdramen und stürzt in Verzweiflung, als John nicht mehr mitspielen will. Zunächst der erotische süße kleine Fratz, fährt sie alsbald ihre Krallen aus. Die Ungleichzeitigkeit der Lust, das vergebliche Eintauchen in die Welt des anderen läßt ihre wütende, gekränkte Seele ausbrechen. Sie droht mit ihren hochhackigen Pumps und schlägt um sich mit Worten, die mit zunehmender Trunkenheit an Drastik gewinnen. Doch ihr Ziel, die Verführung, die Annäherung, verfehlen sie. Schwer atmend, zwischen Wimmern und Brüllen, wirft sie John zugleich Geilheit und Impotenz vor.

In einem hemmungslosen Spiel mit Klischees zerren auch Monika und Alan aneinander. Alan, der Erfolgreiche, verlangt Harmonie und Sex für das Geld, das er nach Hause bringt. Thomas Meinhardt spielt ihn als ungeduldigen, bestimmenden Besserwisser. Ein kalter Kloß, der weinend zerbröselt, als er erkennt, daß er verlassen wird. Verlassen von Monika, seiner Frau, die 20 Jahre lang stumm war und über deren Versuche der Selbstverwirklichung er sich nur mit trockener Bosheit lustig machen kann. Angelica Bißmeier ist Monika, die kaum den Blick erheben mag, um sich mitzuteilen. Sie schüttelt verunsichert und wirr die blonden Locken, wenn sie in der Schlacht der offenen Worte etwas sagen muß. In wachsender Verzweiflung steigert sie das Kopfschütteln bis hin zu hospitalistischen Symptomen.

Der Aufzugschacht in der Mitte des Bühnenbildes führt noch eine Etage höher. Ein Stuhl steht dort und bleibt, wie der obere Raum, leer und unbespielt. Leer wie das Innere der vier Menschen, die sich den Boden unter den Füßen streitig machen, um der eigenen Leere zu entkommen. Die Schwere der Gemüter ist gegossen in die Form einer atemlosen Klamotte, die von allen Vieren komödiantische Begeisterung verlangt.

Julia Kossmann

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