Affekt oder „psychiatrisch auffällig“?

■ Prozeß gegen eine HIV-infizierte Frau, die einen Arzt mit einer blutigen Spritze gestochen hat

Der zweite Anklagevorwurf fiel gestern in sich zusammen: Die 28jährige Christine B. soll am 17. November 1990 mit einer blutigen Spritze auf Hals und Gesicht ihrer Freundin eingestochen haben. Das Ganze soll sich vor der Notaufnahme des St.-Jürgen- Krankenhauses zugetragen haben. Der Vorwurf der gefährlichen Körperverletzung, den die Staatsanwaltschaft gestern vor dem Amtsgericht erhoben hatte, wiegt doppelt schwer, weil Christine B. HIV-positiv und Aids- krank ist.

Die vier Zeugen können die Vorwürfe der Anklage nicht bestätigen. Zwar habe es eine handfeste Rauferei unter den beiden Frauen gegeben, aber eine Spritze sei dabei nicht gesehen worden. Auch das vermeintliche Opfer sagte gestern vor Amtsrichter Dr. Ulrich Hoffmann aus: „Ich bin von B. nicht gespritzt worden.“ Eine Spritze ist auch nicht sichergestellt worden.

Langsam dröselt das Gericht auf, wie es zu diesem Anklagepunkt hat kommen können. Die Polizei hat beim Verfassen des Einsatzberichtes Aussagen vertauscht, die sich auf einen Vorfall bezogen, der einen Tag vorher die Notaufnahme des Krakenhauses an der St.-Jürgen-Straße in Atem gehalten hatte.

Hauptperson dabei ist ebenfalls Christine B., die in der Nacht von Polizisten auf die Notaufnahme gebracht wird. Der diensthabende Arzt W. (32) beschreibt die Frau als nicht ansprechbar, jedoch bessert sich ihr Zustand schnell. Offenbar fürchtet B. die Verhaftung durch die Polizei: Sie soll wegen Schwarzfahrens 30 Mark bezahlen, andernfalls soll sie eingesperrt werden. „Wenn die mich festnehmen, werde ich denen Aids verpassen“, hat die Angeklagte nach Auskunft des Zeugen W. gesagt. Dabei habe sie eine Kanüle aus der Tasche gezogen und sich mehrmals in den Arm gestochen. Der Arzt versucht die Patientin zu beruhigen, was ihm zunächst auch gelingt. Die Kanüle verschwindet wieder in der Tasche.

Da W. bei der Untersuchung keinen medizinischen Grund zur stationären Aufnahme findet, entläßt er Christine B, gleichzeitig verständigt er die Polizei. „Wir schreiben hier niemanden haftfähig, das lehnen wir ab“, erklärt der Arzt. Er gibt aber beim zuständigen Revier bekannt, daß die B. nicht im Krankenhaus aufgenommen wird.

Die schon entlassene Patientin stürmt kurze Zeit später wieder in die Notaufnahme, sichtlich erregt und aggressiv. Sie hat zwei Polizisten gesehen, jetzt geht sie auf die Aufnahme-Schwester los. W. stellt sich dazwischen. In diesem Augenblick sieht er noch nicht, daß die B. wieder eine Kanüle in der Hand hat, fühlt nur den Schmerz, als die Nadel tief in den Daumen seiner rechten Hand fährt. „Ob die Nadel mit der identisch ist, die sich Frau B. kurz vorher in den Arm gestochen hat, kann ich nicht sagen“, erklärte W. gestern. Auf jeden Fall sei sie aber blutig gewesen. Neben dem Nadelstich bekommt W. Beiß- und Kratzwunden ab.

Der Stich blieb folgenlos: W. ist auch heute noch HIV-negativ, Sofort-Behandlung der Wunden, Medikamentenprophylaxe: „Die Gefahr einer Infektion ist wohl vorüber“, sagt der Arzt W., der lange unter Infektionsängsten litt. Er habe einen Tag später die Anzeige erstattet, weil seiner Meinung nach die Angeklagte „psychiatrisch auffällig“ sei und eine Unterbringung angezeigt gewesen wäre.

Weiter kamen gestern zwei Vorfälle zur Sprache, die nicht in der Anklageschrift standen: B. soll im Februar dieses Jahres drei Polizisten mit einer blutigen Spritze bedroht haben, aus 1989 kramt das Gericht eine Vorfall, bei dem sich die Angeklagte um Geld geprellt fühlt und mit Tränengas auf eine Frau zielt. Beide Vorfälle konnten gestern nicht hinreichend geklärt werden. Möglicherweise wurde B. von den Polizeibeamten bedroht, ein Selbstmordversuch in der Polizeizelle und ein Gutachter aus dem Zentralkrankenhaus-Ost können darüber vielleicht Aufschluß geben.

Am Montag wird der Prozeß fortgesetzt, es wird der Tag der Gutachter.

Markus Daschner