: DDR-Dienstjahre tariflich anerkannt
■ Ostdeutsche Beschäftigte im öffentlichen Dienst werden nicht mehr wie Berufsanfänger bezahlt
Bonn (ap/dpa/taz) — Den rund 1,4 Millionen Angehörigen des öffentlichen Dienstes in Ostdeutschland werden ab 1. Dezember ihre früheren Dienstzeiten tarifrechtlich voll anerkannt. Eine entsprechende grundsätzliche Einigung wurde in der Nacht zum Mittwoch nach 14stündigen Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und den Arbeitgebern von Bund, Ländern und Gemeinden in Bonn erzielt. Parallel verhandelten die Tarifparteien auch für die Beschäftigten von Bahn und Post. Zur Klärung von Details wurden die Verhandlungen am Mittwoch zunächst fortgesetzt, später aber vertagt.
Als „Preis der Einigung“ bezeichnet der Sprecher der Deutschen Angestellten-Gewerkschaft (DAG), Ingo Schwope, die Verlängerung des derzeit geltenden Lohn- und Gehaltstarifvertrags um einen Monat bis zum 30. April 1992. Bis dahin sollen die Angehörigen des öffentlichen Dienstes in der früheren DDR weiter nur 60 Prozent der vergleichbaren Westeinkommen beziehen. Eine Tarifregelung über Kündigungsschutz, wie sie im Westen besteht, wurde nicht vereinbart.
Die Vereinbarung hat folgenden Wortlaut: „Ab 1. 12. 1991 werden die Zeiten einer Beschäftigung im öffentlichen Dienst vor dem 1. 7. 1991 auf die Beschäftigungszeit mit Auswirkungen für Kündigungsfristen, Krankenbezüge und Jubiläumszuwendungen angerechnet, bei der Festsetzung der Grundvergütungen/ Monatstabellenlöhne (Besitzstand für Überleitungsfälle) berücksichtigt und bei Bewährungs-, Tätigkeits- und Berufstätigkeitsaufstiegszeiten entsprechend den einschlägigen Regelungen angerechnet.“
Durch eine tarifvertragliche Klausel sollen Stasi-Mitarbeiter und Parteisekretäre von den Regelungen ausgeschlossen bleiben. Entsprechendes gilt auch für Personengruppen, denen ihre Tätigkeit wegen einer besonderen persönlichen Systemnähe übertragen worden seien.
Die Arbeitgeber rechnen nach Angaben des Hauptgeschäftsführers der Vereinigung kommunaler Arbeitgeberverbände, Jakob Berger, mit Kosten von drei bis dreieinhalb Milliarden Mark. Die jetzige Lösung sei komplizierter als die alte, weil „in jedem einzelnen Falle das Berufsleben und die Vergangenheit geprüft werden muß“, kommentierte Berger das Tarifergebnis. Verzögerungen seien vorprogrammiert, da die Verwaltung in den neuen Ländern damit überfordert sei.
ÖTV-Verhandlungsführer Willi Hanss wertete es als Erfolg, daß eine Einigung am Verhandlungstisch erreicht werden konnte. „Eine Eskalation des Konfliktes wurde damit vermieden“, betonte er. „Wir brauchen auch in Ostdeutschland einen funktionalen, bürgernahen öffentlichen Dienst, dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter persönlich motiviert und engagiert ihre Aufgabe anpacken.“ Für Arbeiter, deren Lohntabellen eine im Vergleich zum westlichen Tarifsystem günstigere Struktur aufweisen, wurde eine Besitzstandsregelung vereinbart.
Gesundheitsministerin Gerda Hasselfeldt (CSU) begrüßte die Entscheidung. Sie sei ein „wesentlicher Beitrag zur personellen Stabilisierung des Gesundheitswesens in den neuen Ländern“. SPD-Vorstandssprecherin Cornelie Sonntag betonte ebenso wie der Marburger Bund und der Deutsche Beamtenbund, es sei den beharrlichen Protesten der Betroffenen und der starken Unterstützung aus der Öffentlichkeit zu verdanken, daß es doch noch zu der Einigung gekommen sei.
Auch Berlins Regierender Bürgermeister Eberhard Diepgen (CDU) hat die vereinbarte Anerkennung der Vordienstjahre aus DDR- Zeiten im öffentlichen Dienst gestern ausdrücklich begrüßt. Der Erfolg sei auch der Beharrlichkeit des Senats zu verdanken.
Innensenator Dieter Heckelmann hat die Anrechnung von Vordienstzeiten für Beschäftigte in den neuen Bundesländern und dem Ostteil Berlins als ganz wesentlichen Schritt zur Verwirklichung einheitlicher Lebensverhältnisse bezeichnet. Berlin stehe trotz der finanziellen Mehrbelastung für das Land in Höhe von bis zu 180 Millionen Mark jährlich eindeutig hinter dem Tarifergebnis, erklärte der von der CDU gestellte Senator vor Journalisten im Schöneberger Rathaus.
Im Berliner Universitätsklinikum Charité wird die Tarifeinigung nicht ganz so euphorisch beurteilt: „Was hier läuft, ist einfach hinterhältig“, sagte eine Schwester am Mittwoch. „Was nämlich nicht vereinbart wurde, ist die Unkündbarkeit für den öffentlichen Dienst.“ Enttäuscht seien vor allem ältere Schwestern. „Wer nach mehr als 15 Jahren Dienst noch kündbar ist, fühlt sich um seine Berufserfahrungen betrogen.“
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