: Brasiliens Wonder-Boy am Ende
Von der Ehe- zur Staatskrise: Für Präsident Fernando Collor de Mello geht derzeit alles schief/ Wuchernde Korruption, Inflationsauftrieb und politische Paralyse als Ergebnis seiner Reformmühen ■ Aus Sao Paulo Ralf Leonhard
Seit Wochen verfolgen die Brasilianer gebannt die Ehekrise zwischen Fernando und Rosane. Kommt es zur Scheidung oder finden sie wieder zusammen? Nein, es handelt sich nicht um die neueste „Telenovela“-Fortsetzung, sondern um hohe Politik. Nach anderthalb Jahren an der Regierung ist Fernando Collor de Mello am Ende seiner Reserven. Die Krise im eigenen Schlafzimmer ist nur ein Reflex seiner Unfähigkeit, Wirtschaft und Korruption in den Griff zu bekommen.
Zwei neoliberale Wirtschaftspakete hatten die Inflation von 84 Prozent im Monat auf 3 bis 5 Prozent drücken können — um den Preis der Verarmung der Mittelschicht und der weiteren Verelendung der Armen. Aber im August wurden schon wieder 15 Prozent Inflation gemessen, Tendenz steigend. Die Freigabe von Staatsbetrieben zur Privatisierung hat kaum Einsparungen gebracht, die Arbeitslosigkeit wird dagegen immer dramatischer, der Reallohn immer geringer. Und während Collor einst angetreten war, der endemischen Korruption ein Ende zu bereiten, kassieren heute die Politiker Schmiergelder unverschämter denn je.
Zwar begann der Präsident den Augiasstall des Sozialversicherungsinsituts auszumisten und ließ 38 korrupte Funktionäre festnehmen. Doch die straflosen Sauereien im eigenen Haus nehmen den Maßnahmen jede Glaubwürdigkeit. Die First Lady, Rosane Malta Collor de Mello, hat nämlich als Präsidentin der Brasilianischen Wohlfahrtsliga (LBA), Gelder für Bedürftige an ihre eigene Familie kanalisiert. Traditionell fällt in Brasilien der Vorsitz der LBA der Präsidentengattin zu. Es ist auch nichts besonderes, daß diese Institution mißbraucht wird, um die politische Klientel bei Laune zu halten. Doch dürfte Frau Rosane zu weit gegangen sein. Die Maltas, lokale Potentaten in der Kleinstadt Canapi im nordöstlichen Bundesstaat Alagoas, haben mehrere hunderttausend Dollar an Wohlfahrtsgeldern empfangen, über deren Verwendung sie keine Rechenschaft ablegen können.
Statt sich zum Skandal zu äußern, suchte der Staatschef seine Mißbilligung durch Ablegen des Eherings und öffentliche Brüskierung seiner Frau kundzutun. Rosane versäumte indessen keine Gelegenheit, den Finger mit dem brilliantbesetzten Reif durch die Luft zu wedeln, wenn sich eine Kamera näherte. Erst nach ihrer Ablösung als Chefin der LBA Ende August wurde sie vom Ehemann (nach wie vor ohne Ehering) wieder öffentlich geküßt.
Unter Collor ist die alltägliche Korruption so penetrant geworden, daß sie dem kritischen Politmagazin 'Veja‘ jüngst eine cover story wert war. Mehr als sechs Milliarden US- Dollar — zwei Prozent des Bruttosozialprodukts — werden nach Schätzungen des Abgeordneten Delfim Netto alljährlich als unerlaubte Kommissionen, Schmiergelder, Gefälligkeitszahlungen oder Informationsprämien aus dem Staatshaushalt abgezweigt. Kein Großauftrag wird zugeschlagen, wenn nicht der verantwortliche Minister einen Prozentsatz kassieren kann. Nicht einmal die Ausschüttung von Geldern an die Gemeinden für längst bewilligte Infrastrukturarbeiten geht ohne Kommission für die Bürokratie in Brasilia vonstatten. Kaum ein Minister oder Gouverneur muß sich nach vierjähriger Amtszeit um seine Zukunft sorgen: Die meisten werden über Nacht zu Großgrund- und mehrfachen Hausbesitzern.
Der Malta-Skandal ist inzwischen zur Kriminalstory ausgeartet, weil Rosanes übergewichtiger Bruder Joao nach einem erfolglosen Attentat auf den Bürgermeister von Canapi hinter Gittern sitzt. „Joaozinho“ hatte den Gemeindevorsteher verdächtigt, die Familie vor der Presse angeschwärzt zu haben.
Und auch in der Regierung kam es zum Krach. Der Republikrat, der höchste Krisenstab des Landes, konnte Mitte September keine Einigung über eine Reihe von Reformen der erst drei Jahre alten Verfassung erzielen. Collor versucht seit Wochen seine politische Basis zu erweitern, um Verfassungsänderungen durch das Parlament zu bekommen. Es geht vor allem um Steuerpolitik, Freigabe der Kreditzinsen, Beschneidung der Rechte des Kongresses und Abbau von Beamtenprivilegien. Mit allen Parteichefs und wichtigen Gouverneuren hat Collor gespeist, um den Konsens unter Dach und Fach zu bringen: Den Gouverneuren winkte er mit der Umschuldung fälliger Zahlungen der Bundesstaaten an Brasilia, den Parteichefs versprach er Kabinettsposten. Nur die linke PT des ehemaligen Arbeiterführers Lula verweigert sich grundsätzlich einem Pakt mit der Regierung (siehe Interview) . Doch Parteichefs, allen voran Orestes Quercia, der Vorsitzende der mächtigen PMDB, möchten sich ihre Aussichten bei den nächsten Präsidentschaftswahlen nicht durch eine zu enge Allianz mit einer scheiternden Regierung vermauern.
Aus einem radikalen Programm von 44 Verfassungsänderungen wurde schließlich ein bescheidenes, um zwei Drittel verkürztes Paket, das jetzt dem Parlament vorgelegt wird. Der Präsident mußte kräftig Federn lassen. Der 44jährige politische Emporkömmling Collor, dessen Popularität nach jüngsten Umfragen auf den Nullpunkt zusteuert, kann allein nicht mehr regieren.
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