: Ein Knabe mit Ziege steht Modell für die alten Damen und Hündchen auf dem Savignyplatz
■ Über die Jahre hat der Platz seine inspirierende Trägheit bewahrt/ Auf der einen Hälfte der Grünanlagen sitzen Penner, auf der anderen Bibliophile mit Ankäufen aus der Knesebeckstraße sowie Voyeuristen zu einem Nachmittagsschläfchen
Savignyplatz bedeutet baldige Ankunft, bedeutet, nach der Jacke zu greifen und den Koffer von der Ablage herunterzuzerren. Der Platz zur Linken, einige Häuser, dann schon das Theater des Westens, bevor der Zug schließlich nach einer letzten langen Linkskurve in den Bahnhof Zoo einbiegt. Für die Touristen, die schon seit Wannsee, die Koffer umklammern, die Nasen an den Scheiben der Zugtüren plattdrücken und Berlin erwarten, haben wir nur ein mattes Lächeln übrig, zumal wir im Wiedererkennenkönnen von Orten eine gewisse Gelassenheit erlangt haben. Der S-Bahnhof Savignyplatz gehört zu diesen Orten.
Der Platz und die umliegenden Straßen bieten sich für einen ersten Spaziergang für all jene an, die das Gedränge auf dem Fernbahnsteig überstanden haben, vom Reisen durstig sind und ihre ersten Eindrücke nach der Ankunft nicht gleich mit einer U-Bahn-Fahrt beginnen wollen. Zum Stadtbahnsteig hinüberwechseln, die eine Station zurückfahren und schon erwarten einen die altvertrauten Bilder und Schriftzüge an der Brandmauer neben dem Bahnsteig. Die Aussagen dieses Kunstensembles, das das Ergebnis eines KünstlerInnen-Symposions ist, sind nicht unbedingt und nicht jederzeit leicht verdaulich. Es soll Leute geben, die sich deshalb bewußt in die Mitte des dritten Wagens von hinten setzen, um zwischen den Sätzen »Wir rollen sitzend in den Tod« und »Wir sind die Hautkrankheit der Erde« genau vor dem Bild mit dem Graffiti »Ich liebe dich« zum Stehen kommen.
Die Hungrigen und die Durstigen aller Preisklassen finden rund um den Savignyplatz die vielfältigsten Möglichkeiten, ihre Bedürfnisse zu befriedigen — von der Currywurst am Stehimbiß über den täglich wechselnden Eintopf, der in der »Dicken Wirtin« in roten Emailletöpfen serviert wird, bis zur stilvoll unter Kronleuchtern servierten Pizza im »San Marco«. So bunt gemischt wie die Kneipen- und Restaurantlandschaft ist auch das Publikum, das sich in diesem Revier tummelt. Bisweilen kreuzen sich die Wege der Damen in Theatergarderobe mit denen der Studenten in Jeans, passiert der ältere Anwohner in Cordhose und Pullover die beiden Geschäftsleute mit Aktenkoffern, bevor am Ende jedeR das ihm beziehungsweise ihr gemäße wählt und hinter der entsprechenden Tür verschwindet.
Manchmal treffen sich zu vorgerückter Stunde alle wieder. Zum Beispiel im Café Heyel, wo täglich von der russischen Wirtin selbstgekochte Suppen — an Wochenenden sogar zu russischer Livemusik — aufgetischt werden. Wenn auch die Quasselstrippen unter den Anwesenden endlich leise werden und den gefühlvoll und gekonnt vorgetragenen Liedern den Vorrang lassen, beginnt so mancher Gast sehnsüchtig auf die 'Prawda‘ an der Wand zu blicken und Urlaubspläne zu schmieden.
Dabei ist Osteuropa gar nicht weit. Direkt vor der Tür begegnet es uns möglicherweise in Form einiger Polski-Fiats, deren verfrühte InsassInnen darauf warten, daß der Pol- Shop nebenan, einer jener wie Pilze aus dem Boden geschossenen Elektronikläden für polnische KundInnen, seine Türen öffnet. Die Kaufwilligen in den Autos haben keinen Blick übrig für den Club Sophie, der 24 Stunden am Tag mit roten Blinklichtern um Freier wirbt. Und sie haben auch kein Interesse am nebulösen Kant-Casino zwei Häuser weiter. Zusammengekauert in viel zu kleinen Fahrgastkabüsen, träumen sie ihren neuen Fernsehern, Keyboards oder Radios entgegen.
Was würde wohl Karl Friedrich von Savigny (1779-1861), seines Zeichens Jura-Professor an der Humboldt-Universität, Staatsrat, preußischer Gesetzgebungsminister und Schwager von Bettina von Arnim, zu diesen Etablissements in den ersten Häusern am Platze (1-3) sagen? Weit mehr begeistern würden ihn, den Literaturliebhaber und Freund diverser SchriftstellerInnen, wahrscheinlich die vielen Buchläden, die sich am Platz und entlang der Knesebeckstraße angesiedelt haben. Hier liegt ein wahres Mekka für bibliophile Gemüter. Scharen von BuchnärrInnen, die sich als BuchhändlerInnen verkleidet haben, warten nur darauf, Literaturtips zu geben und aus verborgenen Regalen gedruckte Kostbarkeiten hervorzuzaubern. Und dann warten bereits die Bänke in den Lauben auf jene, die es nicht abwarten können, den Buchdeckel aufzuschlagen — ein durchaus angemessener Zeitvertreib für diesen Ort.
Ein Exerzierplatz war der Savignyplatz nie, nie ein Ort von Aufmärschen und Hurra-Inszenierungen wie so viele andere Plätze dieser Stadt. Vielmehr wurde der Platz, dessen geometrische Grundrisse bereits im sogenannten Hobrecht-Plan von 1862 festgehalten wurden, gegen Ende des vorigen Jahrhunderts als »Rasenschmuckplatz« für die Anwohner angelegt. Die heutige Gestaltung des Platzes ist jedoch eine Kreation der 20er Jahre. Bäume, Büsche und Lauben sollten die Sitzbänke von den Straßen abschirmen und den umliegenden BürgerInnen, die zwar in der Regel betucht waren, aber eben doch nicht reich genug, um sich eine Grunewaldvilla mit eigenem Grün zu leisten, die Atmosphäre eines Hausgartens zu vermitteln.
Und tatsächlich sitzt es sich hier auch heute noch, nachdem der kriegszerstörte und zwischenzeitlich eher kahl wirkende Platz 1985 nach altem Vorbild wiederhergestellt wurde, recht angenehm — vorausgesetzt, es gelingt einem, die Kantstraße, die die Grünanlage in zwei spiegelbildliche Hälften teilt, zu ignorieren. Spiegelbildlich ist übrigens nur die Begrünung, keineswegs aber das Publikum. Während auf der Südseite tagtäglich ein Sechser-Pack nach dem anderen von einer Gruppe Stammgästen geleert wird, wird die Nordhälfte besonders gern von ältern Damen und Leseratten frequentiert. Außerdem steht dort jeden Tag ein Knabe, der an einer ziemlich störrischen Ziege zieht.
Auch noch im Spätsommer läßt es sich auf dem Platz bequem machen. Man sieht die alte Dame mit ihrem Hund, die, auf einer Plastiktüte als Unterlage sitzend, die letzte Wärme des ausklingenden Sommers genießt; man hört den beiden Frauen auf der Nachbarbank zu, die noch einmal Klärchens Beerdigung durchgehen; man fragt sich, welches Buch den Jüngling auf der Bank gegenüber wohl gerade fesselt; und nach und nach gelüstet es einen nach einem Nickerchen, genau wie dem Polen der, auf seinen neuen Videorekorder gelehnt, eingeschlafen ist. Bis gegen Abend die Spätsommersonne einem kühlen Wind weicht, der das erste gelbe Laub aufwirbelt und der Lesende fröstelnd das Buch zuklappt. Der Pole sitzt bereits im Zug Richtung Warschau. Die alte Dame faltet sorgsam die Plastiktüte zusammen und beginnt, ihren trägen Dackel hinter sich herzuziehen. Vielleicht hat August Kraus eine solche alte Dame vor Augen gehabt, als er 1926 die Plastik »Knabe mit Ziege« schuf, die den nördlichen Rand des Platzes ziert. Sonja Schock
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