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Gastkommentar

■ Der deutsche Riß fehlende Öffentlichkeit * Der Mob feiert Triumphe: Aber nach der Wiedervereinigung waren die Busspuren nicht mehr akut, und die deutsche Öffentlichkeit versank in einen tiefen Schlaf

Der deutsche Riß — fehlende Öffentlichkeit Der Mob feiert Triumphe: Aber nach der Wiedervereinigung waren die Busspuren nicht mehr akut, und die deutsche Öffentlichkeit versank in einen tiefen Schlaf

Man will eine Mauer errichten, diesmal um die Verfassung zu schützen. Diese unheimliche Lösung wäre lächerlich, wenn sie nicht als der traditionelle deutsche Weg erschiene, mit komplizierten Problemen fertig zu werden. Von den Ghettos und KZs über die Berliner Mauer bis zum Asylantenschutzwall — das deutet unausweichlich auf historische Kontinuität. Vielleicht haben die Deutschen in ihren unermüdlichen Bestrebungen nach der Einheit übersehen, daß die Einheit bereits zu einer unüberwindbaren Mauer wird. Wenn man die Gesichter der Randalierer im Scheinwerfer sieht, wenn man die Reaktionen der Schaulustigen erlebt, entsteht der Eindruck, daß hier ein Film über den 9.November 1938 gedreht wird. Mit einem Unterschied: Damals gab es an den Orten des Geschehens noch Bürger, die die Pogrome nicht billigten. Heute geschieht dies mit der begeisterten Unterstützung und vollem „Verständnis“ seitens des Volkes und sogar der Beamten.

Der national-sozialistische Staat und sein Nachfolger, der Staat der Werktätigen haben gemeinsam einiges geleistet: das Volk zum Auswurf, nämlich zum Mob umzuerziehen. Keine sozialen Schichten, keine Klassen — alle waren gleich im Staat der gleichen Unmöglichkeiten, deren wichtigste Unmöglichkeit war, Bürger zu werden und die eigene Autonomie zu bewahren. Diejenigen, die damit nicht fertig wurden, sind in den Westen abgehauen.

Die Früchte dieser Verwüstung stehen nun vor aller Augen. DDR-Bürger haben ein kurzes Gedächtnis. Noch vor zwei Jahren haben sie selbst als Flüchtlinge in Ungarn gelebt und gewartet... Heute wird einfach — und zu einfach — erklärt: sie sind arbeitslos, leben in Wohnsilos, haben keine sinnvollen Freizeitbeschäftigungen oder keine Sozialarbeiter. Und man wird nicht müde zu beruhigen: das sind nicht alle Ostdeutschen, die Mehrheit der Bevölkerung besteht aus „guten anständigen Menschen“, die „damit“ nichts zu tun haben.

Vor ein paar Jahren, nach den Kreuzberger Krawallen, fand auch eine Versammlung statt — dort versuchten sozial engagierte Vertreter der Öffentlichkeit Gewalt mit Arbeitslosigkeit zu rechtfertigen. Dann meldete sich ein Randalierer zu Wort und sagte: „Du Arschloch, wir wollen keine Arbeit.“ Der Mob will nicht arbeiten, der Mob will alles haben, ohne zu arbeiten, und wenn er es nicht kriegt, zerstört er lieber die Arbeit anderer. Und die einzige Sprache, die er versteht, ist die Sprache der Gewalt. Und bereits diese Tatsache macht die parlamentarische Debatte über das Asylverfahren so peinlich: Die Eskalation der Rassengewalt ist eine offene Provokation gegen den Rechtsstaat und die Menschenrechte. Die Schutzmauer am Asylantenheim wird zum Sieg der Rassisten. Und sie kapieren: Ein kleiner Zaun von heute wächst morgen in die Grenzsperrungen hinüber. Und dann wird Deutschland „ausländerfrei“. Weitere Gruppen zum Prügeln finden sich von selbst. Übrigens, „nichts damit zu tun haben“ ist erstaunlicherweise nicht nur eine ostdeutsche Erscheinung. Bereits nach der Wiedervereinigung stellte sich heraus, daß die westdeutsche Öffentlichkeit in dieser Musterdemokratie, nachdem die Frage von Busspuren nicht mehr akut war, in tiefen Schlaf versank und ihre Souveränität an den ewig wachenden Staat delegierte. Öffentlichkeit, wo bist du?! Sonja Margolina

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