Das Milchwollschwein im Schafspelz

■ Berlin plant seine neue Mitte

Bauen aus Passion

Daß es das Schicksal Berlins sei, immer zu werden, aber nie zusein, dieser Gedanke des Schriftstellers Karl Scheffler steht eingedenk eines verheerenden Vernichtungskrieges und der Abrißwut der politisch für sie Verantwortlichen, der Stadt wohl für immer eingeschrieben. Aber wo eingerissen wird, warten auch schon die Kräne für den Neuaufbau. Eine der gewaltigsten Baustellen wird nun wohl das Gebiet werden, für das am vergangenen Dienstag die entscheidenden Weichen gestellt wurden: das Gebiet zwischen Brandenburger Tor und Landwehrkanal, zwischen Staatsbibliothek und dem Leipziger Platz. Eine international besetzte Jury hat aus 16 eingereichten Entwürfen eines beschränkten, eingeladenen Wettbewerbs in einer zweitägigen Sitzung einen städtebaulichen Leitentwurf ausgewählt, der zur Grundlage der weiteren Planung empfohlen wird. Um es vorwegzunehmen: ausgezeichnet und mit 40.000 DM prämiert wurde der Entwurf der Münchner Architekten Hilmar & Sattler (siehe Abb.), den zweiten Rang belegte der Entwurf von Oswald Matthias Ungers aus Köln.

Ziel des Wettbewerbs war es, für den engeren Bereich des Leipziger und Potsdamer Platzes eine städtebauliche Idee zu finden, die einerseits die ehemalige baulich-räumliche Struktur der alten Berliner Mitte wiederaufnimmt und neu definiert, und andererseits die Voraussetzungen für die Befriedigung der Bedürfnisse der Stadt des 21. Jahrhunderts an dieser Stelle schafft. So unscharf das klingen mag, so unklar — weil zu groß angelegt — war auch die Vorgabe. Bei der Vielfalt und Unterschiedlickeit der eingereichten Beiträge zeigte sich einmal mehr die Unmöglichkeit einer Unternehmung, auf eine so weitgesteckte Aufgabe einzelne Architekten anzusetzen; hier wäre ein Arbeitsstab zu fordern, der groß genug wäre, um alle fachspezifischen Aufgabenstellungen abzudecken, aber nicht zu groß, um am Ende arbeitsunfähig zu sein und paralysierend zu wirken. Aber auch die Besetzung der Jury legte wieder einmal offen, welche unterschiedlichen Vorstellungen von Stadt in den Köpfen der verantwortlichen Planer und Politiker vorzufinden sind. Am Ende wird dies Gebiet und die städtebauliche Figur, die hier als »Neue Stadt« entsteht, immer dies bleiben: Eine Chimäre am Rande des Tiergartens — eine Chimäre aber zugleich am Ende einer Stadt, die sich den Weg zum Bruderkuß gen Westen sucht.

Die unselige und bisweilen sehr ideologische Diskussion, die in Berlin in den letzten Wochen über »Spargel« (=Hochaus) und »Bulette« (=Berliner Baublock mit 22 Meter Traufhöhe) geführt wurde, eine Diskussion, bei der ästhetische Kategorien nur in ganz wenigen Köpfen von Architekten keimten, trägt nun ihre Früchte: ein — an der Hitzigkeit der Diskussion gemessen — recht harmloser Entwurf rangiert nun an Platz 1.

Keine Stadt nirgends

Es zeigte sich bei der Schlußrunde der Jurysitzung, bei der noch fünf, und anschließend nur noch drei bzw. zwei Entwürfe diskutiert wurden, daß der Mut zur Auszeichnung eines wirklich exzeptionellen Konzeptes für die Stadt von Morgen fehlt. Und das letztlich ein Entwurf vor allen prämiert wurde, der ganz ohne kontrapunktische Hochhausfigurationen auszukommen meint, das grenzt schon an Ignoranz und biederer Halbherzigkeit. Die beiden herausragenden Arbeiten — die der Architekten Daniel Libeskind und Hans Kollhoff/Alexandre Chermetoff/Fritz Neumeyer — blieben schon im Vorfeld hängen. (Wir werden diese in den nächsten Wochen vorstellen.) Die intellektuelle und ideelle Leistung der feinnetzigen und feinnervigen, dabei doch enorm waghalsigen Megastruktur von Libeskind wäre bei der Wucht ihres Vortrages wahrscheinlich gar nicht realisierbar gewesen: sie ist eher als Manifestation zu verstehen und zugleich als Kritik an der Halbherzigkeit der Vorgaben und der dann auch erfolgten Entscheidungsfindung. (Daß dieser feinfühlige Herr immer auch entweder gar nicht oder mißverstanden wird, werden spätere Generationen beweisen müssen.) Aber gerade deshalb wäre eine Plazierung in den vorderen Rängen der Diskussion um das, was den meisten anderen Arbeiten fehlt, dienlicher gewesen.

Was nun den Entwurf von Hans Kollhoff und Partner betrifft, haben wir es hier mit der prägnantesten Definition von neuer Stadt und Rand und Mitte und zugleich mit der konsequentesten Idee zu tun: Sie nehmen die alte barocke Stadtfigur beim Wort, führen diese und denLeipziger Platz mit seinem Oktogon als Grundmuster bis an den Eingang zum Potsdamer Platz — um dann mit einem radikalen Bruch einen halbrunden Platz zu bilden. Hier plazieren sie, an den tortenförmigen, durch kurze Stich- /Sternstraßen gebildeten Grundstücken gewaltige Hochhäuser. Auf der Rückseite führen sie den Tiergarten bis an die Hauskanten dieser Skyscraper, womit sie gerade die Nahtstelle am genauesten definieren, die in allen anderen Entwürfen Unwohlsein hinterläßt. Dieser Bereich nämlich: vom Potsdamer Platz bis hin zur Staatsbibliothek und zur Philharmonie, ist bei den meisten anderen Arbeiten kompromißlerisch bis anbiedernd, ohne Wagnis und letztlich ideenlos figuriert. Der Tiergarten als Central-Park im Rücken — eine starke Vorführung des wabernden städtebaulichen Chaos des Kulturforums.

Und nun

Was aber bietet uns der prämierte Entwurf von Hilmar&Sattler? Einen Leipziger Platz, der die Figur des Oktogons zwar beibehält, dabei aber durch eine vorgeblich modernistische Haltung unangenehm auffällt: die Platzseiten werden mit Hilfe von der eigentlichen Bebauung vorgesetzten Scheiben gebildet, die höher als die alte Traufhöhe und auch höher als die dahinter stehende Bebauung sind. Man möchte diese Baustruktur sogleich — quasi wie eine Socke — auf links drehen: nämlich derart, daß die Höhenentwicklung des Platzraumes umgekehrt erfolgt, terassiert von niedrig nach hoch. Etwa so, wie es die immer noch vorbildlichen großstädtischen Kauf- und Wohnhäuser von Henri Sauvage in Paris vorführen (Samaritaine!) — zumal hier wieder ein Kaufhaus entstehen soll.

Am Potsdamer Platz werden die Sieger des Concourses dann vorlaut monumental: gegenüber des Oktogons plazieren sie — als Tore! — zwei 17geschossige Gebäude als Flankenschutz für den in Hobrecht-Manier weitergestrickten Stadtgrundriß. Dieser Idee liegen die schon in den zwanziger Jahren unter Stadtbaurat Martin Wagner angedachten Figuren zugrunde. Nach Süden — in Richtung und bis hin zum Landwehrkanal — wird ein Stadt-Park, eine Art verbreiterte Allee geführt, wobei die raumbildenden Straßenfluchten und Hauskanten der Konvention der Stadt des 19. Jahrhunderts verpflichtet bleiben: rhythmisch das Thema Parzelle- Haus-Block wiederholend — auch in dieser Haltung und Geste monumental.

Wir wollen aber nicht bloß defätistisch sein und versuchen, dieser Mentalität etwas abzugewinnen. Für irgend etwas mußte man sich ja entscheiden! — und bei allen Schwächen birgt vielleicht gerade das jetzt vorgegebene Thema die größte Variabilität in seinem eigenen System. Die Möglichkeiten zu selbständig ausformulierten architektonischen Elementen finden hier — so bleibt jedenfalls zu hoffen (warten wir die nächsten halbherzig ausgeschriebenen Wettbewerbe einmal ab) — die weitestgehenden Freiheiten, immer allerdings eingedenk der Eliminierung von stark vertikalen Elementen. Bei allen prägnanten Ausformulierungen in diesem Wettbewerb wären wahrscheinlich alle Eingriffe (die allein durch noch zu korrigiernde Verkehrs- und Nutzungskonzepte notwendig werden, eben weil die Vorgaben sehr dünnbrettartig formuliert sind) höchstwahrscheinlich das Aus für seine ursprüngliche Idee. Je starrer die Systeme nämlich sind, desto eher bergen sie — nicht nur für sich selbst — zerstörende Elemente.

Tiergartenrand oder Zoo

Eine der Preisrichterinnen sprach am Ende der Sitzung vom Programm bis zum Ergebnis dieses Wettbewerbes als von einem Milchwollschwein; womit sie den zu großen Umfang und den zu hohen Anspruch von Auslobung, Vorgaben und zu erbringender Leistung meinte. Bei der Harmlosigkeit, mit der nun der 1. Preis daherkommt, könnte man tatsächlich von diesem Schwein — aber im Schafspelz — sprechen. Aber man muß sich nicht vor allem fürchten, was potentiell hinter Schafspelzen sich zu verstecken pflegt: Dieses Tierchen kommt derart bieder daher, daß man eher geneigt ist hinzugehen, um es zu streicheln. Wie beim Frosch-Kuß der Prinzessin wird sich dieses dann als das entpuppen, was es ist: eben bloß ein aus Langeweile am Tiergartenrand vor sich hin dösendes und grasendes Milchwollschwein. Martin Kieren