piwik no script img

Spät, aber noch nicht zu spät

■ Man darf die Straße nicht den Rechtsextremen überlassen

Spät, aber noch nicht zu spät Man darf die Straße nicht den Rechtsextremen überlassen

Haltet den Dieb“ rufen und dabei das geklaute Portemonnaie seelenruhig in der eigenen Tasche verstauen ist eine der beliebtesten Spielarten der Volksverdummung. Helmut Kohl und sein wichtigstes Verlautbahrungsorgan 'Bild‘ sind Meister dieses Faches. Seit Wochen lassen sich CDU und 'Bild‘ keine Gelegenheit entgehen, den angeblichen „Asylantenstrom“ zum deutschen Volksfeind Nummer 1 hochzureden. Nun schleudern sie denen, die sie beim Wort nehmen, „Schande“ entgegen, weil die Zeit gekommen scheint, verbrannte Kinder eben auch wirksam die Auflage steigern zu lassen. Auch Kohls Scheinheiligkeit zum Tag der Einheit macht vergangenes Unrecht nicht weniger schlimm und ist darüber hinaus kaum geeignet, zukünftigen Terror zu verhindern.

In den 70er Jahren wurde Heinrich Böll aus eben dieser gesellschaftlichen Ecke der geistigen Urheberschaft des Terrorismus geziehen. Wenn diese Formulierung jemals eine zutreffende Beschreibung für eine Kausalität zwischen Wort und Tat ist, dann trifft sie auf die heutigen „Haltet den Dieb“- Schreier zu.

Auch der gestrige Besuch von drei Flüchtlingsheimen durch Bundespräsident Weizsäcker ist nicht frei von schalem Beigeschmack. Besser spät als nie mögen die betroffenen Flüchtlinge denken. Doch der demonstrative Akt wäre zwei Wochen früher sowohl glaubwürdiger als auch wirksamer gewesen. Überhaupt fragt man sich seit Wochen zunehmend irritiert, warum die so oft beschworene Gemeinsamkeit der Demokraten, das demokratische Deutschland schlechthin, es allein den Autonomen überläßt, gegen Rassismus und Neofaschismus zu demonstrieren.

Wo war das Aushängeschild des CDU-Reformflügels, Kurt Biedenkopf, als in seinem Bundesland die Pogromstimmung einen vorläufigen Höhepunkt erreichte? Warum waren SPD, Kirchen und Gewerkschaften nicht in der Lage, deutlich zu demonstrieren, daß Rassismus in Deutschland nicht gesellschaftsfähig ist? Es ist zwar traurig, wenn es dazu erst einer Initiative Weizsäckers bedarf. Aber spätestens jetzt ist doch wohl die Zeit gekommen, öffentlich aktiv zu werden und die Straße nicht länger den Rassisten zu überlassen. Besuche in Flüchtlingsheimen müssen ja nicht auf eine halbe Stunde beschränkt sein, sondern könnten endlich zu einem wirksamen Schutz für die Menschen organisiert werden. Jürgen Gottschlich

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen