: Deutschland ohne Verfassung?
■ Tagung zur Frage der Verfassung / BVG-Richter Simon: „Wir drücken uns“
„In allen Demokratie, die etwas auf sich halten“, formulierte der frühere Bundesverfassungsrichter Simon am Tag der deutschen Einheit im Bremer Konsul-Hackfeld-Haus, werde eine neue Verfassung als Taufakt für einen neuen Staat in einer Volksabstimmung verabschiedet. Im Grundgesetz von 1949, das ausdrücklich für das Provisorium Bundesrepublik gemacht wurde, ist eine neue Verfassung für das nach dem Willen des Volkes geeinte Deutschland versprochen. Nach dem Einigungsvertrag ist es aber still geworden, es gibt keine lebendige Verfassungsdebatte. „Sollen wir jetzt unsere Papiere zusammenpacken und sagen: Das war's?“ Der ältere Herr kommt in Rage, wenn er das Thema anspricht. „Ich bin nicht dazu bereit!“ ruft Simon. „Es fehlt die Berufung und die Fähigkeit zum Gesetzegeben“, und: „Wir drücken uns.“ Es sei ein historischer Augenblick, und wenn der neue deutsche Staat nicht auf eine demokratisch legitimierte Verfassung gebaut werde, könne dies in Krisensituationen ungeahnte Folgen haben.
Seit dem Beitritt der „neuen“ Bundesländer zu dem alten Provisorium schwelt die Frage einer neuen Verfassung. Der Bundespräsident spricht sich hin und wieder dafür aus, die großen Parteien halten den Auftrag des Grundgesetzes auf kleiner Flamme, Ausschüsse von Bundesrat und Bundestag in Bonn sind eingerichtet und schweigen öffentlich.
In einer kleinen Tagung versammelten sich in Bremen neben dem Verfassungsrichter a.D. Helmut Simon der Bremer Verfassungs-Jurist Prof. Ulrich K. Preuß und der Rostocker Parlamentspräsident Christoph Kleemann („Neues Forum“).
Simon berichtete von seiner Arbeit an der neuen brandenburgischen Verfassung. Hier hat die Potsdamer Ampel-Koalition reformfreudige Juristen zusammengerufen, auch Verbandsvertreter sind an der Kommission beteiligt, die brandenburgischen CDU-Vertreter haben eher still mitgemacht — und für das Ergebnis die Schelte der westdeutschen CDU-Verfassungsexperten erhalten.
Da wurde nämlich der Grundrechte-Teil neu formuliert, soziale Rechte ergänzen die Menschenrechte: das Recht auf Arbeit, das Recht auf soziale Sicherung, das Recht auf gleiche Bildungschancen. Obwohl Brandenburg nur eine Landesverfassung debattiert, wurde das Friedensgebot konkretisiert — in eine deutsche Verfassung könnte man das Verbot von Massenvernichtungswaffen hineinschreiben. Natürlich soll es in Brandenburg Volksabstimmung und Volksentscheid geben, ein „Öko-Beirat“ soll über die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen wachen.
Der Pferdefuß an dem Projekt: Auch für den Verfassungsrichter Simon hat eine Verfassung den Sinn, gesellschaftlichen Konsens festzustellen. „Streitfragen müssen Gesetzen überlassen bleiben“, meinte er. Auf eine neue bundesdeutsche Verfassung kann er also keine großen Hoffnungen setzen, da geht es ihm mehr um die Debatte und um das demokratische Prinzip: „Fremdes wird eher als eigenes angenommen, wenn Eigenes hinzugefügt werden kann.“ Landesverfassungen tragen allerdings auch dazu bei, die Republik zu verändern.
Der Rostocker Parlamentspräsident Christoph Kleemann hatte engagiert von der Zeit des Runden Tisches berichtet und damit diese Institution als Element einer neuen Verfassung vorgeschlagen - sozusagen als ein kleines Erbe aus der DDR und ihrer Umbruchzeit. Die beiden Verfassungsexperten zu seiner Seite, sowohl Simon wie Preuß, widersprachen dem aber deutlich. Preuß wandte ein: In einer Demokratie gilt jede Stimme gleich, am Runden Tisch hatten aber Gruppierungen, unabhängig davon, ob sie viel oder wenig Menschen repräsentieren, das gleiche Gewicht. Simon zeigte sich begeistert vom Runden Tisch, den er in Berlin zeitweise beraten hatte — wollte ihm aber lieber nicht durch Institutionalisierung von seinem „Charme“ und seiner „Spontaneität“ nehmen.
Für eine Politisierung der Verfassungsdebattte plädierte der Bremer Justizsenator Volker Kröning. Man müsse das Verfassungsthema auf das Wesentliche konzentieren, meinte er, und sich auf ein „Geben und Nehmen zwiwschen den Lagern“ einlassen. Etwa könnten die, die die Formulierung der Ökologie als Staatsziel in die Verfassung aufgenommen wissen wollen, dem anderen LAger insofern entgegenkommen, als über einen Bundeswehreinsatz außerhalb der Nato mit nur einfache Parlamentsmehrheit entschieden werden könne. K.W.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen