: Spricht alles für das Schneckenhaus?
Spricht alles für das Schneckenhaus?
1823 gestand der alte Goethe Herrn Kanzler Müller, er habe nie im Leben sich gegen den übermächtigen Strom der Menge oder des herrschenden Prinzips in feindliche, nutzlose Opposition stellen mögen; er habe sich lieber in sein eigenes Schneckenhaus zurückgezogen und dort nach Belieben gehauset.
Als ich das las, vor mehr als zwanzig Jahren, während irgendeines Studienjahres, erinnerte ich mich plötzlich wütend des frühen Todes von Kleist und Büchner — Goethe aber galt für mich von da an als genialer Übervater des deutschen Opportunismus.
Wie dem auch sei: Der Spur des Geheimrates sind lichte Scharen von Literaten gefolgt, die meisten von allerdings geringerem Talent. Die deutsche Literaturgeschichte blickt auf Großes zurück und zugleich auf das gut gefügte Wort, den brillianten Gedanken im Schneckenhaus als einer erstklassigen Alibitradition.
Wir schreiben eine andere Zeit, und verlassen heute Schriftsteller und Schriftstellerinnen ihre Klause, um sich in feindliche, nutzlose Opposition zu stellen, ernten sie allenfalls Spott und Gelächter. Sie sollen sich, heißt es, doch auf ihr »Eigentliches« besinnen, statt sich vom Rucksack des Weltleides in Sprachlosigkeit drücken zu lassen. Was also den Schriftstellern allemal gut, gerät den Nachtwächtern teuer: Sobald sie es vorziehen, sich auf ihr »Eigentliches« zu besinnen, heißt es, das Volks sei feige.
Alles spricht für das Schneckenhaus: das Volk von Hoyerswerda, das gerade vorführt, wie sinnlos allein schon der bisherige Kräfteverschleiß war. Gallige Journalisten, die darauf lauern, uns zur Zwangsgemeinschaft zu degradieren: »Autoren«, lesen wir vielleicht morgen schon, »auf der Flucht vor heller Beliebigkeit in den Schatten eines beinharten Gegeners, der sie verlassen hat, indem er zum Therapiefall schrumpfte.«
Während der zweiten Runde des Debakels um Rushdie (jenem Mann, der langsam auch den Briten zu teuer wird), fühlte ich mich plötzlich an einen unseligen politischen Kurs erinnert, an den Wandel durch Annäherung. Denn es ging ja den Chefs der Buchmesse, dieser gigantischsten Umsatzschleuder bedruckten Papieres, nicht allein um das Geschäft mit ein paar iranischen Verlagen. Es ging um die gefällige Annäherung an eine Diktatur, bei der ein Literatenkopf zunehmend stört. So ermutigend also der Erfolg des Protestes gegen diese windelweiche Peinlichkeit (der sich, nicht überraschend, der windelweiche VS zugesellte), so zwingend erhebt sich die Frage, wieso ein solcher Boykott nicht auch China erfaßt, jede andere Diktatur. Ich weiß, ein chinesischer Kopf müßte her — einzig die Schlagzeile trommelt noch gegen das Vergessen.
Auch ein anderes Dilemma hat der abgewiegelte Eklat nicht aus der Welt schaffen können: Der Verlagsboykott des Kopfjägerstaates trifft ja auch Autoren, die auf gefährliche Weise selbst den Kopf aus der Mullahgruft stecken. Was wissen wir von ihnen? Namen wie Schahrnusch Parsineschad oder Huschang Golschidi können wir gerade noch mühsam buchstabieren, ihre Werke jedoch streifen noch nicht einmal unsere Interessensphäre. Ich denke, wir schulden ihnen und den exil-iranischen Autoren endlich ein unabhängiges Forum. Wir schulden es all jenen Autorinnen und Autoren, denen momentan nicht die Gnade zuteil wird, die westeuropäischen Sinne mit einer Schlagzeile kitzeln zu dürfen.
Wir schulden uns den Aufblick von unserem Nabel [Sehr, sehr schön gesagt! d.s.] Ansonsten könnte uns entgehen, daß auch die osteuropäische Kultur den Radius unseres Interesses zu verlassen droht.
Ich wünsche mir eine Zusammenarbeit von Schriftstellern, Autoren, Publizisten, die auch die Einmischung zu ihrem »Eigentlichen« zählen. Die Einmischung in eine Gesellschaft, die keine Köpfe fordert. Eine Gesellschaft allerdings, in der das leere Wort zum guten Ton gehört und das hehre Wort zum Trickarsenal des Politikers.
Und ich plädiere für einen unabhängigen Schriftstellerverband — nicht aus Liebe zu Sitzungen oder Satzungen, sondern aus Zorn, den gesellschaftlichen Topf für Literatur einzig in der toten Hose des alten VS verschwinden zu sehen. Es gibt Wichtigeres zu finanzieren als tote Hosen.
Freya Klier, 1988 aus der damaligen DDR ausgebürgert, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Sie tritt ein für die Gründung eines alternativen Schriftstellerverbands. In der »Stadtmitte« greifen die AutorInnen Probleme und Debatten in Berlin auf.
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