Die Sonne bringt es an den Tag

Im Prozeß gegen vier ehemalige Grenzsoldaten soll das Urteil in der nächsten Woche gesprochen werden/ Das Publikum ist müde und entnervt/ Der Theaterdonner zweier Verteidiger verhallt  ■ Aus Berlin Götz Aly

Die Sinnhaftigkeit der Justiz verlangt nicht nur nach den verbundenen Augen jener altrömischen abwägenden Göttin Justitia, sondern auch nach kräftigen Sinnsprüchen — wie zum Beispiel dem: „Die Sonne bringt es an den Tag.“ Ein schöner Satz, den die kaiserlichen Baumeister als Mauergraffito in den Rauhputz des Moabiter Kriminalgerichts einmeißeln ließen. Ein Satz, der die Vorstellung nahelegt, daß das gleißende, jeden Verdunkelungsversuch aufhellende, jeden Lügenschnee wegschmelzende heiße Licht des Strafprozesses am Ende die Wahrheit zu Tage fördern wird — in jedem Fall ein Ergebnis: die klare und nachhaltige Verurteilung der Bösewichter.

Nach nunmehr bald sechs Wochen neigt sich der erste sogenannte „Mauerschützenprozeß“ seinem Ende entgegen. Das Urteil wird in der nächsten Woche erwartet: Zielstrebig arbeitet das Gericht diesem Tag entgegen; die Staatsanwaltschaft verhält sich passiv, setzt auf das ergebnisorientierte Gebaren der Kammer; die Rechtsanwälte haben ihr Pulver verschossen, der gelegentlich fulminante, aber eben doch etwas künstliche Theaterdonner der Verteidiger Eisen- und Spangenberg verhallt mehr und mehr; das Publikum ist müde, gelangweilt, entnervt und die Fußballkameraden des Angeklagten Schmett fordern ihren Peter immer dringender für die letzten Begegnungen der Saison an. Der junge Mann aus Drachhausen habe sich stets „ehrlich, ordentlich und pflichtbewußt“ gezeigt, ein guter Torschütze und — gewissermaßen deshalb — auf keinen Fall ein Mauerschütze.

Gestern wurde der Zeuge Thomas Winkler vernommen, jener Militärstaatsanwalt, der nach der Wende und auf Druck der Mutter des erschossenen Chris Gueffroy einige Ermittlungen anstellte, eine schmale Akte zuwege brachte und nun die Echtheit einiger Schriftstücke bestätigen sollte. „Jawohl“, sagt Winkler (inzwischen Rechtsanwalt), „wenn es da so steht, dann war das so.“ Immerhin kam Winkler das Verdienst zu, daß er die Namen der jetzt angeklagten vier Wehrpflichtigen ermittelte. Das war nicht einfach. Denn nach dem tödlichen „Zwischenfall“ wurden alle Unterlagen der Einheit — vom Wäschebuch bis zur Kaderakte, von der Verpflegungskarte bis zur Munitionsquittung — eingezogen und vernichtet. Statt dessen wurden neue Kladden angelegt, die so aussahen, als hätten die vier jetzt Angeklagten in diesem Grenzabschnitt niemals Dienst getan. „Ein Wahnsinnsaufwand, aber die Soldaten sollten geschützt werden“, äußerte der Zeuge Ronald Fabian dazu. Vor wem eigentlich, wenn sie doch nach der geltenden „sozialistischen Gesetzlichkeit“ gehandelt hatten und sich die Militärs der DDR alles vorstellen konnten, nur nicht das jäh bevorstehende Ende ihres „sozialistischen Vaterlands“? Als sich die DDR dann doch „wie eine Brausetablette auflöste“ (Freya Klier), vernichteten die Grenztruppen 1990 alle Tagesbefehle — der Militärstaatsanwalt kam zu spät. Er interessierte sich zwar nicht für die Frage, ob hier gegen Menschenrechte verstoßen worden sei — eine Frage, die dem frischgebackenen Rechtsanwalt auch heute noch ein Buch mit sieben Siegeln ist. Aber Winkler interessierte sich dafür, ob in jener Nacht wirklich der Befehl bestanden habe, notfalls zu schießen. Eine Befehlslage, die vor und nach jedem „Staatshöhepunkt“ (Fabian) wechselte. Interessant ist aber auch dies: In der Nacht vom 5. zum 6. Februar 1989 wurde der verantwortliche Major Fabian vom zuständigen General gelobt, am nächsten Morgen aber — als der Tod von Chris Gueffroy feststand, die DDR-Politiker vielleicht schon reagiert hatten — beschimpfte derselbe General denselben Major. Aber beide hatten sie in den Wochen und Monaten zuvor die Befehle immer unklarer formuliert: Subkutan hatten sie ihren Soldaten bedeutet: „Lieber schießen als einen durchlassen.“ Und gleichzeitig wußten sie: „Im Grunde genommen sollte nicht geschossen werden.“ Das nämlich erbrachte der Prozeß: Die Offiziere tragen erhebliche Schuld — doch „sie spazieren als Zeugen in den Saal, während die Soldaten Angeklagte sind“ (Schmett-Anwalt Ufer).

Die Sonne, die die Wahrheit zu Tage fördern sollte, schien in diesem Prozeß nur selten ins eher voraufklärerische Halbdunkel des Gerichtssaals. Wenn jetzt so etwas wie Licht sichtbar wird, ist es allenfalls das Licht am Ende des Tunnels, das alle Prozeßbeteiligten aufatmen läßt.