: Der welke Duft von Träumen
■ Die gesammelten Erzählungen des Alberto Savinio
Als er fünf Jahre alt war, schenkte ihm seine Mutter einen kleinen künstlichen Baum. Sie hatten ihn im Vorübergehen in der Auslage eines Geschäftes gesehen. Als es Herbst wurde, das Laub sich färbte und die Bäume schließlich ihre Blätter verloren, stellte der Junge fest, daß sein Bäumchen unverändert blieb. Es trotzte der Zeit und dem Lauf der Dinge. Die Beobachtung hinterließ einen unauslöschlichen Eindruck: „Zum ersten Mal fühlte sich Didaco als Mensch.“
Sechzig Jahre später ist aus dem kleinen Didaco der größte Einbalsamierer Europas geworden. Nach dem ersten Bäumchen hatte er sich weitere gewünscht, dann Tiere und Menschen. Dann hatte er begonnen, selbst künstliche Tiere, Pflanzen und Menschen anzufertigen. Schließlich hatte er sich als Präparator den Ruf größter Meisterschaft und den Beinamen „Gottvater“ erworben. In einem Gewächshaus erschuf er aus einbalsamierten Tieren und Pflanzen einen Garten Eden en miniature. In der Mitte errichtete er einen Baum der Erkenntnis, um den sich eine Schlange ringelte. Er selbst wandelte durch diesen Garten „in einem Hausrock mit einem großen Stern darauf“.
Als er eines Tages unverhofft von einer Reise zurückkehrt, findet er seine junge Frau und seinen jungen Assistenten nackt, umschlungen und schlafend unter dem Baum der Erkenntnis. Signor Didaco, genannt Gottvater, der größte Einbalsamierer Europas, ergreift die Gelegenheit und komplettiert sein irdisches Paradies. „Man achtet nicht genug auf die Dinge, die man den Kindern in die Hand gibt“, hatte Alberto Savinio seinen Erzähler zu Beginn der Erzählung bemerken lassen.
Andrea de Chirico, Schriftsteller, Maler, Komponist und Bruder Giorgio de Chiricos, nannte sich Alberto Savinio; wohl um nicht mit dem berühmteren, drei Jahre älteren Bruder verwechselt zu werden. Seine Werke erreichten nur einen kleinen Kreis. Einzig seine eigenwillige Mailand- Hommage Stadt, ich lausche Deinem Herzen, eine Art kulturhistorischer Essay, darf als Ausnahme gelten. Freundschaften verbanden Savinio mit Picasso, Apollinaire und Cocteau; André Breton bezeichnete ihn und seinen Bruder Giorgio de Chirico als die beiden geistigen Urheber des Surrealismus. Den dreizehn Erzählungen, die der Band Tutta la vita vereinigt, ist eine Notiz des Autors nachgestellt, in der er diese Einschätzung Bretons zwar teilt, sie aber kommentiert. Er definiert den Surrealismus als „Darstellung des Formlosen“ und als „Ausdruck des Unbewußten“ und fährt fort, er hingegen wolle „dem Formlosen Form und dem Unbewußten Bewußtsein geben“.
Savinios Geschichten erzählen von Außenseitern und Sonderlingen, von Krankheit und Tod, und von jenen seltsamen Momenten, in denen eine sicher geglaubte Realität plötzlich ihr Gesicht wandelt. Dann beginnen Sessel zu sprechen und enthüllen einem Witwer, daß und wie oft er betrogen wurde. Dann verläßt ein Telamon seinen Platz als Pfeiler eines Balkons aus Ärger über die Dummheit seiner Bewohner. Es ist das Haus der Dummheit, und aus unsichtbaren Lautsprechern tönt es: „Alle ins Haus der Dummheit! Es ist euer Haus!“ Auf eine traurige Weise sind Savinios Erzählungen aber auch Allerweltsgeschichten, denn sie erzählen auch von gewöhnlichen Menschen, die es nicht verstehen, „auf die Stimme der Dinge zu achten, die sie in ihrer Unwissenheit für stumm halten, sie können nicht die Landschaften sehen, welche die Luft bevölkern, die sie in ihrer derben Gleichgültigkeit für leer halten, und mit dicken Köpfen, die nicht begreifen, und mit verschleierten Augen, die nicht sehen, bewegen sie sich ahnungslos inmitten von Geheimnissen“.
Die Originalausgabe des vorliegenden Bandes ist 1945 unter dem Titel Tutta la vita erschienen. Die Titelgeschichte handelte von einem kleinen Jungen, der sich sein zukünftiges Leben erträumt: „Und das ganze Leben wird so sein, herrlich, das ganze Leben.“ Es ist ein Fiebertraum, der Junge stirbt. Der Tod ist in Savinios Erzählungen allgegenwärtig. Der dichte, aus den drei Fäden der Täuschung, der Unwissenheit und der Leichtgläubigkeit gewobene Schleier, mit dem das Leben selbst die Menschen umgibt, damit sie einander nicht zerfleischen, wie es in einer anderen Erzählung heißt, ist zerrissen — die Katastrophe des Zweiten Weltkrieges hat in den Erzählungen Savinios eine deutliche Spur hinterlassen. Geträumte Träume, so heißt es im Buch einmal, röchen wie verwelkte Blumen, und was von Träumen zurückbleibe, sei einzig dieser Geruch. Er durchzieht die Erzählungen Alberto Savinios noch immer. Hubert Spiegel
Alberto Savinio: Tutta la vita — Das ganze Leben. Erzählungen. Aus dem Italienischen von Joachim A. Frank. Suhrkamp Verlag, 189 S., geb., DM 32,- .
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