: Berlin ohne K.F. Schinkel
■ Der Architekturhistoriker Fritz Neumeyer plädiert zum 150. Todestag für eine neue hauptstädtische Bautradition
Berlin ist gezwungen, in einer neuen historischen Wirklichkeit zu leben und ihr auch als Stadt gerecht zu werden. Darin besteht die eigentliche, einmalige Chance. Um dieser neuen und zugleich historischen Rolle als Hauptstadt gerecht werden zu können, braucht Berlin auch eine neue Haltung zu sich selbst: Es muß wieder sein eigener Bauherr werden. Um diese entscheidende Rolle als Hauptstadt einer deutschen Republik wiederzufinden, muß Berlin buchstäblich über seinen eigenen Schatten springen: Um zu werden, was es ist, muß es einen Teil seiner Geschichte hinter sich lassen.
Schon allein aufgrund dieser historischen Kondition kann es städtebaulich gesehen nicht schlicht ums »Weiterbauen« gehen. Sucht man nach Anknüpfungspunkten für die Neubestimmung und Wiedergewinnung von Berlins Stellung als Metropole, so kann die Geschichte nur bedingt Anhaltspunkte bieten. Berlin ist augenblicklich, um es mit Johann Gottlieb Fichte zu sagen, zur Freiheit verurteilt und aufgefordert, sich selbst neu zu entwerfen, zu erfinden und Gestalt zu geben. Diese Chance darf nicht verspielt werden. Der Ausgang des Wettbewerbs Potsdamer Platz erscheint in dieser Hinsicht wenig ermutigend.
Berlin braucht eine neue Stadtvorstellung, eine Stadtidee und eine Stadtarchitektur. Erst durch die Wiedervereinigung tritt dieses Defizit in vollem Umfang zu Tage. Die Stadt mit einer der bedeutendsten Architekturtraditionen tut sich mehr als schwer, aus diesem Erbe heute Kapital zu schlagen. Eine Schere der doppelten Unmöglichkeit droht über der Stadt zuzugehen. Auf der einen Seite steht die fast hemmungslose Bereitschaft, sich den internationalen Architektur-Pluralismus in allen Spielarten einzuverleiben. Auf der anderen Seite steht eine zur Borniertheit neigende Zukunftsangst, die sich krampfhaft an der vielzitierten — von der Länge einer Feuerleiter zu Hobrechts Zeiten bestimmten — Traufhöhe und der historischen Parzellenstruktur festkrallt, als ginge es um die heiligen Kühe des Berliner Stadtbildes.
Man wird den Eindruck nicht los, daß in der Stadt derzeit verkehrte Diskussionen geführt werden: Anstatt nach vorn zu denken und Programme zur Bestimmung des künftigen Stadtbildes aufzulegen, werden Erhaltungssatzungen für das vorhandene verabschiedet. Man diskutiert leidenschaftlich die Frage, ob man — wenn es sich um bauliche Hinterlassenschaften der DDR handelt — historische Bauten abreißen darf, ob man sie wiedereinrichten darf — wenn es sich um Baudenkmale aus einer glorreichen Vergangenheit handelt —, anstatt sich die Frage danach zu stellen, wie man in Berlin die in der Stadt vorhandenen Kräfte bündeln und eine Baugesinnung mobilisieren kann, die eine Tradition am Ort wiederbegründen, die einmal die rekonstruktionswürdigen Bauten der Zukunft hervorbringt.
Denn die bedrängende Frage ist doch, womit wir selbst eigentlich in Zukunft Geschichte machen wollen, also jenes Element in den historischen Prozeß einbringen, das ihn eigentlich erst ermöglicht, indem es ihn fortsetzt? Was muß Neues her, damit Berlin auf zeitgenössische Art wieder zu dem werden kann, was es einmal war?!
Die Debatten um Rekonstruktion, Traufhöhe und Parzellenstruktur bringen im Grunde nur eines ganz deutlich an den Tag: die unerfüllte Sehnsucht nach einer eigenständigen, berlinisch-hauptstädtischen Architektur, die es — von wenigen Ausnahmen abgesehen — schon seit den zwanziger Jahren auf internationalem Niveau in dieser Stadt nicht mehr gibt.
Eine solche großstädtische Baukultur ist es, was Berlin eigentlich fehlt, um seiner Stellung als Hauptstadt auch architektonisch und städtebaulich gerecht zu werden: als ein Berlin, das sich nicht allein damit begnügen will, die Rolle einer gigantischen Ausstellungsvitrine von Architekturtendenzen zu spielen, die in den Metropolen anderer Länder initiiert werden, sondern ein Berlin, das seine eigene Substanz als Dialogbeitrag und Tendenz in den internationalen Pluralismus als Position einzubringen weiß.
Im Lichte dieser Problematik sollte auch an die Frage der Rekonstruktion historischer Bauten zur Wiedergewinnung der Mitte herangegangen werden.
Wenn man darauf hoffen könnte, daß die Befürchtungen derer einträfen, die — etwa gegen den Wiederaufbau des Stadtschlosses — das Argument hervorbringen, daß mit der Wiedererrichtung von historischen Bauwerken zugleich auch immer etwas von jenem Geist wiederbelebt würde, der einst in diesen Mauern wehte, so müßten wir uns schleunigst daran machen, Schinkels Bauakademie am Wederschen Markt wiederaufzurichten.
Von welchem anderen Bau könnte man sich sehnlicher wünschen, daß der in ihm verkörperte Geist, der in der Geschichte stark verwurzelt, aber ebenso offen für das Neue ist, endlich wieder auferstünde!
Mit der Bauakademie wäre nicht nur ein städtebaulicher Eckstein zur Wiedergewinnung der historischen Mitte gefunden, sondern auch das passende Gehäuse für eine Institution, die im Herzen Berlins als neue Berliner Architekturschule und Schinkel-Archiv eine Stätte des Forschens und Experimentierens und ein Diskussions-Forum für Stadtideen sein könnte — jenseits der Interessenverbände von Kammern, BDA, AIV, aber nahe genug an den Problemen der Stadt.
Von hier könnte ein entscheidender Impuls ausgehen, jene Tradition neu zu gründen, die offensichtlich abhanden gekommen ist: die Tradition einer hauptstädtischen Berliner Baukultur. Nicht Traditionshörigkeit, sondern die Entfaltung von eigenen Kräften durch Anverwandlung ist der Verarbeitungsprozeß geschichtlicher Erfahrungen mit produktiv-methodischer Bedeutung als Vergangenheitsrezeption!
Um es einmal ganz deutlich zu sagen: Nicht das Besondere, Exzeptionelle steht zur Disposition, sondern das Charakteristische, das Typische, das Berlinische. Wir brauchen eine Berliner Linie mit Kompetenz und der Kraft zum Weitblick: mit dem Mut, über den Kiezhorizont der Teilstädte und den Rand der Geschichte der Teilstädte hinauszublicken. Berlin muß sich einen Ruck geben und über den eigenen Schatten springen, den Kleinmut abgeben, den Verführungen der Geschichte und den Moden des Zeitgeistes zu widerstehen, um unabhängiger zu werden und zu sich selbst zurückzufinden. Erst dann kann es seine Bauherrn-Rolle wahrnehmen.
Um sich gegen Investoren wie die Bundesbaudirektion künftig zu behaupten, um Senat und Bezirke auf eine Linie zu bringen, dafür bräuchte Berlin heute einen Schinkel. Doch der fehlt schon lange. Die Diagnose, die Theodor Fontane am 5. August 1875 in einem Brief an seine Frau über den Zustand der Architektur in Berlin gab, ist angesichts bevorstehender neuer Gründerjahre aktueller und bedrängender als damals:
»Es fehlt der Sinn und ebenso eine mit wirklicher Autorität ausgerüstete Leitung. Wenn Schinkel jemals fehlte, so fehlt er jetzt.«
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