Hunger nach Film

Theweleit, Sloterdijk, Cohn-Bendit und das 40. Film Festival Mannheim  ■ Von Jürgen Berger

C'est la vie heißt der Film und ist, wie er heißt: Ein Sponti-Rückblick auf die 60er Jahre, ein müdes Lächeln für die ad acta gelegte Idee von einer besseren Welt. Gemacht hat ihn Daniel Cohn-Bendit zusammen mit Peter Franz Steinbach, gekostet hat er rund eine Million, die überwiegend aus Filmfördertöpfen stammt. Viel davon bekam Jean-Pierre Léaud, wofür er sein Gesicht hinhielt, Matthias Beltz war billiger und mimt in der Rahmenhandlung des Films einen Journalisten, der dokumentarisches Material aus den sechziger Jahren sammelt. Das Material sorgt als Collage im Film für Abwechslung, während die Rahmenhandlung eher mühsam konstruiert ist: Bisher unentdeckte Filmrollen eines Gesprächs zwischen Rudi Dutschke und Francois Truffaut, so Cohn-Bendits Krimiphantasie, sind der Anlaß für eine Verfolgungsjagd mit nur einem Ziel — er selbst möchte sich irgendwann denn doch vor einen kleinen Monitor zur Ruhe setzen und angesichts einer Rede Dutschkes milde lächeln. Widersprechen kann Rudi Dutschke nicht mehr, wenn Daniel Cohn-Bendit ihn beim Distanzierungsversuch von der eigenen Vergangenheit gleich mit entsorgt.

Es war eine merkwürdige Veranstaltung, als Frankfurts Dezernent für Multikulturelles sich während des „Film Festivals Mannheim“ der Diskussion stellte und in einem Präventivschlag alle Einwände vorwegnahm, die man gegen seinen Film haben könnte — geschehen während einer Sonderveranstaltung, dem Schau Platz, der zum ersten Mal in der Geschichte des altehrwürdigen Festivals dafür sorgte, daß der Wettbewerb um den „Großen Preis der Stadt Mannheim“ an den letzten beiden Tagen aussetzte. Statt dessen wurde Theater gespielt, diskutiert und philosophischen Vorträgen gelauscht. Es ging um vieles, nur nicht um den Hunger nach Sinn, so das Diskussionsthema der zweitägigen Veranstaltung. Und vieles ging dabei schief. Vor allem Krzysztof Kieslowski konnte mit dieser Art Hunger nichts anfangen und erzählte statt dessen amüsante Geschichten, tat also genau das, was der Film seiner Ansicht nach abseits jeglicher Sinnsuche tun sollte. Überraschend kam das Bekenntnis des polnischen Regisseurs, daß er mit seinen Filmen fürderhin die auseinanderdriftenden Teile der Welt zusammenhalten möchte, die derzeit eigene (blutige) Wege gehen wollen. Kieslowski, so sieht es aus, ist gerade auf (katholischer) Heilssuche; daß er zur Sinndiskussion eingeladen worden war, schien also durchaus sinnvoll — nur: Kieslowski wollte nicht diskutieren und schon gar nicht darüber, ob das Kino den Sinnhunger des mediengebeutelten Zeitgenossen noch stillen kann. Sein neuester Film Die zwei Leben der Veronika war in Mannheim außerhalb des Wettbewerbs und kurz vor dem bundesdeutschen Start zu sehen. Zwei Filmjournalisten und ein überforderter Moderator versuchten im Gespräch, den polnischen Regisseur aus der Reserve zu locken, während eine ganz andere, unausgesprochene Frage im Raum stand: Wie geht es weiter mit dem Festival?

Der neue Leiter, Michael Kötz, will es mit Akzentuierungen wie dem Schauplatz wieder konkurrenzfähig machen, auch um den Preis, Traditionen aufzugeben. Nach Mannheim sollen wieder Filme gelockt werden, die das Festival seit einiger Zeit mangels Attraktivität meiden, Lockmittel sollen spektakuläre Diskussionsforen sein, während gleichzeitig einige der bisherigen eher arbeitsamen Schwerpunkte — wie die Sonderreihe „Filme der 3. Welt“ — ersatzlos gestrichen werden. Dieses Jahr hat Kötz das neugierige Mannheimer Publikum jedenfalls zuhauf in den Schau Platz gelockt, ernst wird es für Kötz erst nächstes Jahr, wenn er auch für die Wettbewerbsfilme verantwortlich sein wird — denn dort blieben diesmal die Zuschauer aus. Zwar ist man ins „Capitol“ umgezogen und zeigt die Debütfilme in einem der schönsten Kinos Deutschlands, das Publikum allerdings scheint das Ambiente nicht zu schätzen. Daß das Festival abspecken muß, damit freiwerdendes Geld gezielter eingesetzt werden kann, steht außer Zweifel. Ärgerlich nur, daß mit Beginn von Michael Kötz' Direktion die im Budget kaum ins Gewicht fallenden Mannheimer Filmdukaten (1.000 Mark) nicht mehr verliehen werden. Ärgerlich deshalb, weil viele der Mannheimer Entdeckungen wie Jim Jarmusch für ihren Debütfilm nicht den Großen Preis erhielten, sondern auf ihrem Weg ins harte Filmgeschäft durch das Dukaten-Renommee gestärkt wurden.

Für den jungen russischen Regisseur Bahtiyar Hudoinazarov fiel dieses Jahr mehr ab. Er bekam den Großen Preis für seinen Film Brother, der die Geschichte zweier Brüder erzählt, die ihren Vater suchen — daß die Jury ihre Entscheidung damit begründete, Hudoinazarovs Film sei eine Verteidigung vom Menschlichkeit und Solidarität in einer immer mehr von Geld und Karriere dominierten Gesellschaft, wirkte wie ein Kommentar auf das Geschehen während der Preisvergabe. Auf der Bühne standen infolge des Dukatenmangels weniger Regisseure als gewohnt, dafür machten sich andere breit: Sponsoren, die dürftige Trinkgelder geben (vier große baden- württembergische Zinsinstitute teilen sich seit neuestem den Großen Preis von 25.000 Mark) und sich damit einen Platz auf der Preisbühne erkaufen. Der Preisträger schritt die Front ab und bedankte sich bei den Almosengebern. Es war zum Wegsehen.

Regisseur des Auftritts war Mannheims SPD-Oberbürgermeister Gerhard Widder, der direkte Dienstherr des Festivalleiters, und derzeit emsig damit beschäftigt, Mannheims Kulturlandschaft privatwirtschaftlich zu parzellieren. Wenn sich herumspricht, daß schon ein Griff in die Portokasse reicht, um auf Mannheims Festival ins werbewirksame und imagefördernde Rampenlicht zu gelangen, werden die Regisseure bei der Preisverleihung künftig im zweiten Glied stehen.

Vielleicht passiert es dann auch, daß einer der Sponsoren zufällig ins Kino gerät und plötzlich nicht mehr zahlen möchte, wenn er sieht, für was er zahlt. Beim kanadischen Dokumentarfilm Hunters and Bombers wäre das wohl kaum passiert, weil der Konflikt sich in Labrador abspielt: Innu-Indianer sind Jäger. Wenn man ihnen die Jagd verbietet, bleibt nur der Alkohol im Reservat. Dort sollen sie hin, weil die kanadische Luftwaffe über ihren Jagdgründen Übungsbomben abwirft und das Wild vertreibt. Sie wehren sich. Hugh Brody und Nigel Markham konfrontieren die beiden Welten miteinander — den mit dem Auge kaum nachvollziehbaren Tiefflug des Nato-Bombers aus Sicht der Bordkamera mit dem Gleiten eines Innu-Jägers im Kanu; die Gesichter alter Indianerinnen mit dem selbstzufriedenen Lächeln eines Luftwaffen- Dienstgrades, der erklärt, warum das Innu-Gebiet zerstört werden muß.

Der Süddeutsche Rundfunk hat dem Film seinen Dokumentarfilmpreis (10.000 Mark) zugesprochen, Hunters and Bombers wird demnächst in den dritten Programmen zu sehen sein. Kanadische Filme sind schon seit einigen Jahren stark im Mannheimer Wettbewerb vertreten, letztes Jahr gewann Cynthia Scotts Company of Strangers den Großen Preis, in diesem Jahr hätte ihn Norma Bailey mit ihrem Bordertown Cafe verdient. In einem Café an der amerikanisch-kanadischen Grenze lebt die geschiedene Marlene mit Sohn Jimmy. Der Ex-Mann kommt immer mal wieder mit dem Truck vorbei, bis er den Sohn zu sich holen möchte und die Mutter aus ihren Träumereien aufwacht. Ein Film mit bestechender Dialogführung, gutes, witziges Erzählkino.

Den kanadischen Filmen und auch Bordertown Cafe merkt man manchmal die räumliche Nähe zum glatten Hollywood an, ein Ort, den auch Krzysztof Kieslowski, so behauptet er jedenfalls, konsequent meiden wird. Die Befürchtung, das sinnentleerte TV-Bild könne inzwischen auch das Kinobild lebensgefährlich infiziert haben, teilt er nicht. Auch nicht die Klaus Theweleits: Das Kino gerate durch die neue technische Möglichkeit computergenerierter Bilder hoffnungslos ins Abseits, künftig könne ein künstlerisches Abbild der Realität nicht mehr komponiert werden. Das wurde schon einmal für die Malerei behauptet, als die Photographie aufkam. Theweleit als Godard-geschulter Schau Platz- Redner war dennoch ein belebendes Element in der Film-Sinndiskussion. Peter Sloterdijk preschte in eine andere Richtung davon. Wohl als einziger nahm er das diesjährige Festivalmotto wirklich ernst, was einen spannenden kulturphilosophischen Vortrag über das abendländische Mißverständnis zur Folge hatte, Sinn könne konsumptiv-oral und also fressend in sich geschaufelt werden, wohingegen sich zarte Sinngebilde nur respiratorisch und also spielerisch atmend einstellten. Am Ende seines Vortrags hatte man nur eine Chance, wieder zum Film zu kommen — auf direktem Weg. Zum Beispiel, indem man sich Jacek Blawuts Die Unnormalen ansah. Ein seltener Film auf der Grenzlinie zwischen Dokumentation und Fiktion. Geistig behinderte Kinder leben in einem Heim auf dem Land, zeigen ihr kleines Leben und wissen dabei, daß es nichts Schöneres gibt, als Schauspielerin und Schauspieler zu sein. Der polnische Regisseur bekam den Josef-von-Sternberg-Preis für einen eigenwilligen Film, in dem die sogenannten Unnormalen eigenwilliger sind als viele von uns sogenannten Normalen.