: Berauschende Heimreisen
■ Wenn am Ende der Nacht alles getrunken ist, wird die Stadt zum letzten fahrenden Abenteuer
Im Morgengrauen und kurz davor, Samstag und Sonntag, wenn sich die großen und kleinen Vergnügungsorte leeren, beginnt eine unheimliche wilde Jagd mit starken Schlitten, nichts für schwache Nerven.
Freitag abend, das Wochenende. Ob man noch lebt? Das Nachtleben wird es zeigen. Eine gute Vorbereitung ist alles. Die Nacht ist lang, will ausgekostet sein, alles will erlebt werden, nur nicht das, was von Montag bis Freitag gelebt wird. Einen draufmachen. Und das geliebte Auto ist mit von der Partie. Ein, zwei Nächte so leben, wie es die mondänen Zigarrettenfilmchen versprechen, nicht vorzeitig schlappmachen. Zwischen eins und vier fahren nur Anfänger nach Hause oder die, die nichts vertragen. Das sind dann die Dummen, die sich mit 1,3 Promille zwischen weiß-roten Hütchen und gelben Blinklichtern wiederfinden und ihre geliebte Freikarte, den Führerschein, verlieren.
Wer sich auskennt, macht die Heimfahrt zur feucht-fröhlichen Mutprobe, mit 1,8 Promille werden die anderen hilfsbereit nach Hause geschleudert — mach hinne, Mann, sechse passen allemal in deine Schüssel — den Weibern ordentlich angst gemacht, mit den Kumpels (die mit dem Daimler) gibt's ein heißes Wettrennen über den Kaiserdamm. Wer die meisten Ampeln rot nimmt, hat bald einen irren Vorsprung. Nach vier Uhr sind die Mausefallen abgebaut, auch Polizisten werden müde, alles ist möglich für den, der durchhält. Nach Neukölln über die Stadtautobahn, ein Traum, das ist was anderes als der Berufsstau von Montagmorgen. Ob der Tacho das aushält? Ha, am Nadelöhr Sachsendamm hat's einen Konkurrenten erwischt, Totalschaden zwischen lädierten Absperrungen, der Motor läuft noch, die Insassen sind zu Fuß auf dem Weg in die Koje. Wenn sich der Restalkohol verflüchtigt hat, bleibt der Bockschein erhalten, ein Abenteuer ist erfolgreich bestanden, am Stammtisch wird man lange davon zehren. Die Karre? Künstlerpech, das Ding fraß sowieso zuviel Öl, im Dezember hol' ich mir den 320er, sieht geil aus, das Teil. Freiheit statt Stau.
Die Nächte — zumal am Wochenende — decken vieles, was sich tagsüber von selbst verbietet. Die freien Straßen, die Anonymität der Dunkelheit gaukeln die engen Grenzen weg, die der Straßenverkehr alltags auferlegt. Das nächtliche Berlin ist des Autofahrers Tagtraum, viele Ampeln sind abgeschaltet, wo dennoch Rot leuchtet, wird dies als lästiges, unsinniges Hindernis empfunden, das Auto erweist sich nun als das berauschende Freiheitselixier, wie es versprochen war. Berlin hatte immer schon eine Spitzenstellung in der Unfallstatistik inne. Man schob dies gern auf die Mauer, das Eingeschlossensein, welches fatale Ausbruchsversuche auslösen kann. Jetzt, da die Anstalt nicht mehr geschlossen ist, findet jedoch mehr denn je Wildwest am Steuer statt, grenzenlose Freiheiten symbolisiert auch im Osten das Auto.
Der Klassenkampf tobt jetzt auf der Straße. Ossi gegen Wessi, Wessi/Ossi gegen Polen, Auto gegen Fahrrad, das reicht von diversen Drohgebärden über Schimpfkanonaden bis zum immer beliebter werdenden Tränengasspray, griffbereit im Handschuhfach. Nachts gerät man selten auf solche Art aneinander. Nachts sind die Kollisionen heftiger, Blech auf Blech, auf stehende Hindernisse, lebende Ziele. Die enthemmende Wirkung des Alkohols, die trügerische Leere der Straßen, die Lust am Abenteuer, all das ergibt eine heikle Mischung, wenn der Heimweg angetreten wird. Das Auto stehen lassen, ein Taxi nehmen? — hier wird plötzlich geknausert, nur diejenigen, welche den Führerschein schon einmal abgeben mußten, sind einsichtiger. Für die Mehrheit gilt: Mein Auto bringt mich nach Hause. Daß dies nicht immer gelingt, zeigt sich am Rand jener Straßen, die vom Zentrum an die Peripherie führen: Yorckstraße, Gitschiner Straße, Schumacherdamm, Reichsstraße, Heerstraße, die Stadtautobahn, vor allem da, wo die Gerade plötzlich abknickt oder eine Baustelle ist, stehen Samstag und Sonntag morgen lädierte Autos. Die Liebe zum Auto macht eine Lösung des Problems schwierig. Mehr Nachtbusse, durchgehende U-Bahnen und billige Taxen (letztere werden ab Sonntag noch teurer) veranlassen nur wenige zum Umsteigen. Ebenso wie sich in Krisenzeiten der Prestigewert des Autos erhöht, verringert sich die Attraktivität der »passiven« Transportmittel. Die Aggressionen in U- und S-Bahnen tun ein übriges. Mehr Polizeikontrollen? Auch die Angst vor der grünen Uniform scheint nicht mehr wie früher zu existieren. Bleibt ein ernüchterndes Fazit: Im Morgengrauen ist Berlin berauschend, aber gefährlich. Kazper
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