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PAKT DER AUTORITÄTEN

■ In Lourdes ist die Medizin der Fels, auf den die Kirche baut

In Lourdes

ist die Medizin

der Fels, auf den

die Kirche baut

VONHENRIKETHOMSEN

Lourdes, sieben Uhr morgens. Die farblose Madonna auf der Place du Rosaire blinzelt ins milde Morgenlicht. Zu ihren Füßen duftet ein rosa- weißes Blütenmeer, um sie herum schlummern die grauen Mauern der Kirchen und Hospitäler. Vor dem Eingang der unterirdischen Basilika Saint-Pie-X sitzt, hinter einem Zaun und von zahlreichen Schafen umgeben, Klein-Bernadette. Das Steingesicht der 14jährigen Müllerstochter, die 1858 der Heiligen Jungfrau begegnet sein will, ist sanft und ausdruckslos. Ein Schild: „Kerzen darbringen verboten.“

Litaneifetzen dringen aus der Grotte. Vor der Kulisse der Marienerscheinungen haben sich die ersten Pilger zur Morgenmesse versammelt. Am Eingang der Bäder jubiliert eine Gruppe junger Nonnen. Bewegung entsteht unter den dort Wartenden. Sie treten beiseite, um den ersten Zug Kranker passieren zu lassen, die auf Heilung durch die Quelle aus der Grotte hoffen. Die Leidgeprüften sitzen oder liegen in blauen Wägelchen, vor denen freiwillige Helfer im Geschirr gehen. Von den Gebeten eines kahlgeschorenen Priesters begleitet, werden sie vor der Tür der Umkleidekabinen geparkt, die den trillernden Nonnen am nächsten liegt. Die derbe Fröhlichkeit der bunten Häkeldecken auf ihren Knien spottet ihren grauen Gesichtern.

Die Gesunden nehmen, nach Männlein und Weiblein getrennt, auf Holzbänken an der Seite Platz. Eine freundliche Dame erkundigt sich, wer erstmals da sei, und händigt den Kandidaten schriftliche Instruktionen aus. Anschließend bittet sie um Rückgabe der Zettelchen — Sparmaßnahme eines Heiligtums, das über einen Jahresetat von durchschnittlich 70 Millionen Francs freiwilliger Spenden verfügt.

Unter den Betonarkaden des langgestreckten Badehauses ist es schummrig. Viele Frauen beten mit geschlossenen Augen und dem Rücken zur Wand. In Schüben werden sie ins Innere geschleust, das ganz in den Farben Unserer Lieben Frau zu Lourdes, weiß und blau, gehalten ist.

In den Gemeinschaftskabinen helfen Wärterinnen beim Entkleiden. In einen blauen Umhang gehüllt, wird jede Frau einzeln hinter einen Vorhang geführt, hinter dem eine Steinwanne in Sarkophagform wartet. Vier Helferinnen klatschen ein Laken in das eisige Quellwasser. Ein Wink: Umhang ab, Laken um. Küßchen für die verblichene Jungfrau am Beckenende. Von acht Händen gepackt, untergetaucht, zurück auf die Füße gestellt. Laken ab, Umhang um. Die Nächste bitte. Beim Ankleiden zupft die Wärterin liebevoll den BH zurecht.

Um 10.45 Uhr öffnet sich die Grotte den Gläubigen. Von dieser Minute an defilieren unablässig Menschen zu Füßen einer Statue und an einer Felswand vorbei, aus der Wasser rinselt. Am Ausgang knien Frauen aus allen Nationen in einträchtiger Andacht nieder, während die Gatten Erinnerungsfotos schießen.

Plötzlich ein Schrei: „Laissez passer les malades!“ Die Betenden werden davongescheucht, damit eine Wagenkohorte die heilige Stätte verlassen kann. Keiner murrt. Kranke haben in Lourdes ein einziges Privileg: die Vorfahrt. Kein Pilger starrt auf das Défilé menschlichen Elends, das von allen Phänomenen hier vielleicht das faszinierendste ist. An den verstohlenen Blicken auf die mobilen Jammergestalten lassen sich die Touristen erkennen, die nur für ein paar Stunden zu Besuch kommen. Für die Pilger tritt spätestens nach dem zweiten Tag ein gewisser Gewöhnungseffekt ein. Das liegt sowohl an der Masse der Kranken, in der das Elend des Einzelnen verschwimmt, als auch an ihrer Gleichstellung mit den Gesunden. Leid ist in Lourdes nichts besonderes. Und das Individuum zählt, ob gesund oder krank, wenig. Die Gemeinschaft dagegen ist alles. Der französische Schrifsteller Jois-Karl Huysmans schrieb 1907 in seinem Buch Die Massen von Lourdes: „Hier findet eine Rückkehr zu den Anfängen der Christenheit statt ... Man erhält den Eindruck eines Volkkes, das sich aus unterschiedlichen Bestandteilen zusammensetzt und doch so einheitlich ist, wie es kein Volk jemals war. Morgen wird es sich beim Abschied auflösen, aber es wird sich bei der Ankunft neuer Elemente ... erneuern und nichts wird anders sein. Die Frömnmigkeit bleibt die gleiche, Geduld und Glauben ähneln sich.“

Stadt der kleinen Leute

Die meisten Ritter, die gegen die Jungfrau in der Grotte zu Felde zogen, darunter neben Huysmans vor allem Kurt Tucholsky und Emile Zola, haben die hysterische Verfassung der Gläubigen angeprangert. Zumindest für das moderne Lourdes ist dies nicht zutreffend, und die Beobachtungen Huysmans, die zwischen Zolas Roman Lourdes und Tucholskys Pyrenäenbuch veröffentlicht wurden, sprechen dafür, daß bei dem Vorwurf der Wunsch Vater des Gedankens war. Ungeduldiges Warten auf das Wunder ist nirgends zu spüren. Vielmehr geht alles seinen routinierten Gang, und die Pilgerschaft trottet über das Heiligtum wie eine Schafherde auf ihren ausgetretenen Pfaden: von der Andacht zum Bad, vom Bad zur Grotte, von der Grotte zu Angehörigen im Krankenhaus oder, wenn die Mittagsstunde naht, zum Essen.

Ab 12 Uhr hält das Heiligtum Siesta. Die Bäder sind geschlossen, und die Pilger packen auf den ausgedehnten Rasenflächen ihre Picknickkörbe aus. Wer möchte, kann auf der gegenüberliegenden Seite der Gave du Pau bei dezenten Priestern beichten.

Auch manche Andenkenläden lassen über Mittag die Rolläden über ihren mit Quellwasser gefüllten Plastikjungfrauen, ihren mannshohen Rosenkränzen und ihren Videos über Pilgerfreuden herab, darunter der gigantische Supermarkt der Heiligkeiten, St. Rosaire, nahe der Pforte des Heiligtums. Die strikt eingehaltene Mittagsruhe illustriert, welcher Schlag Menschen das Publikum von Lourdes bildet. „Es sind nun Leute aus so vielen Nationen da, aber es ist immer derselbe Typus“, bemerkte Tucholsky in seinem 1927 veröffentlichten Pyrenäenbuch. „Der bäuerliche, der kleinbürgerliche. Besonders die Frauen erinnern an Klatsch im Schlächterladen, an kleine Schneiderinnen, an Hebammen.“

Der Wallfahrtsort ist immer wieder wegen Kitsch und Kommerz angegriffen worden. Das ist sicher richtig. Doch selbst in der Rue Bernadette Soubirous und auf dem Boulevard de la Grotte, wo der Pilgerrummel seinen Abgrund erreicht, haben die Cafés gemäßigtere Preise als auf dem Boulevard St. Germain, und die Andenkenläden sind längst nicht so unverschämt wie etwa auf dem Mont Saint-Michel. Statt illustrer Modeboutiquen und Schönheitssalons reihen sich in der Innenstadt Läden mit leicht angestaubten Waren aneinander, zumeist mit Kinderkleidern oder Haushaltsutensilien im Angebot. „Lourdes ist die Stadt der kleinen Leute“, schrieb Tucholsky.

Der große Betrug findet nicht statt. Würde hier das letzte Pilgerhemd ausgezogen, die Ära der Wallfahrten wäre längst vorbei. Lourdes muß neuerdings auf eine besonders finanzschwache Besuchergruppe Rücksicht nehmen: Pilger aus Osteuropa. 1990 kamen rund 12.500, in der ersten Hälfte dieses Jahres fanden allein 25.000 den Weg in die Pyrenäen, darunter vor allem Polen und Tschechoslowaken.

Um 14 Uhr bricht der erste Krankenzug des Nachmittags vom Krankenhaus Nôtre Dame auf. Taubstumme. Auch sie werden von einem Chor begleitet.

„Die Heilungen sind nicht das Wichtigste in Lourdes“, behauptet Dr. Pilon, Chef des Bureau Médical, das eifersüchtig über die Kranken wacht. Was dann? Die Antwort ergibt sich bei einer Diskussion mit Jugendlichen, die Dr. Pilon zusammen mit dem Kaplan André Cabes und drei „wunderbar Geheilten“ am Nachmittag bestreitet.

Der Sinn von Lourdes

Père André hält zunächst eine schwungvolle Einführung in das Thema „Der Sinn von Lourdes“. Er faßt die Geschichte Bernadettes zusammen und pickt Einzelheiten heraus, die sich zur Interpretation eignen. Zum Beispiel die Größe der Erscheinungen. Maria habe Bernadettes Größe angenommen, damit diese sich mit ihr identifizieren, sich geborgen fühlen konnte. Père André nimmt es mit der Wahrheit nicht so genau. Der angesehenste Lourdes- Forscher, Père Laurentin, belegt in seinem Buch Le Sens de Lourdes, daß Bernadette ihre Angaben betreffs der Größe Marias (wie im übrigen über viele Details) laufend änderte. Bei ihrer ersten Aussage vom 21. Februar 1858 war die Madonna kleiner als das Mädchen, das keine 140 Zentimeter maß. Bis 1863 wuchs Maria über Bernadette hinaus, die sich schließlich bei ihrem Tod 1879 nicht erinnern konnte, jemals Größenvergleiche angestellt zu haben.

Dr. Pilon gibt sich streng. Er will in jedem Fall den Vorwurf der Hysterie unter den Kranken vermeiden: „Damit wäre Lourdes diskreditiert.“ Er betont vor allem die penible Dokumentation der Heilungen. Jeder Kranke wird bei seiner Ankunft und Abreise von den Ärzten des Bureau Médical untersucht, psychiatrische Tests inklusive. Ein vorgeblich Geheilter wird jahrelang beobachtet, ehe seine „medzinisch nicht erklärbare Heilung“ durch ein internationales Ärztekomitee mit Sitz in Paris anerkannt wird. Erst dann bekommt die Kirche ihr Wunder, doch es ist umso wirkungsvoller. Die Medizin repräsentiert die weltliche Macht, die von der Gesellschaft als letzte rationale Instanz über Tod und Leben anerkannt wird. Was sie nicht vollbringen kann, gilt als übermenschlich. Damit ist Gott an der Reihe. Es ist gerade die wissenschaftliche Autorität, die hier dem Überirdischen Schützenhilfe leistet.

Während Père André genüßlich vom irdischen Elend erzählt, betrachtet Dr. Pilon mit ernster Miene Röntgenbilder, die er vor den staunenden Augen des Publikums gegen das Licht hält. Nickt beifällig, als eine „Geheilte“ erzählt, sie habe ihre Kinder „gleich zwei Tage später“ taufen lassen. Ereifert sich über den schüchternen Einwurf eines Mädchens, immerhin seien in Lourdes noch nie amputierte Körperglieder nachgewachsen: „Diese dumme Frage hat schon Zola gestellt!“ Aber gleich darauf hat er sich schon wieder in der Hand und lächelt gütig. Derlei „Wunder“ seien widernatürlich. In Lourdes aber geschehen nur Dinge ganz im Sinne der menschlichen Veranlagung. Und Dr. Pilon behauptet: „Kirche und Medizin haben hier keinen Pakt geschlossen. Wir Ärzte sind unabhängig. Uns interessiert nur der Heilungsprozeß.“

Gottesdienst in der unterirdischen Basilika Saint-Pie-X. Der an einen riesigen Bunker gemahnende Raum ist angefüllt mit dem Schweiß aus 40.000 Achselhöhlen und pathetischen Trompetenklängen. Um die Sitzreihen sind die Kranken aufgebaut, über deren Wohlergehen die Freiwilligen wachen. Das ist Lourdes. Ein Zusammenschluß von Frommen in ihrem eigenen Mief, durch den kein kritischer Wind von draußen hineinweiht, weil die Mauern kirchlicher und medizinischer Autoriät kein Lüftchen hindurchlassen. Gottesfurcht ist an diesem Ort des institutionalisierten Wunders nicht zu spüren, dafür ist alles milde und menschenfreundlich. Und im Herzen der Pilger steht die katholische Kirche eherner denn je.

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