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Hollywood oder St. Petersburg

■ Von Panzerkreuzern und Fünf-Jahresplänen zur Fotoecke über dem Sofa/ Fotografien von Moissej und Ida Nappelbaum in der Avantgarde-Galerie Natan Fedorowskij

Die Ausstellung »Ida Nappelbaum, Photographien der 20er Jahre«, hätte auch heißen können »Der Apfel fällt nicht weit vom Nappelbaum« oder »Wie der Vater so die Tochter«. Gut ein Drittel der vorgestellten Arbeiten stammen nämlich vom Vater Moissej (1889-1958), der gemeinsam mit Tochter Ida (geboren 1900) eines der florierenden Portraitateliers in der jungen Sowjetunion betrieb. Die handwerklich brillanten Portraitstudien der beiden, meist in kleineren, sepiabraunen Edeldrucken präsentiert, unterschieden sich kaum in ihrem Duktus: Die Modelle werden vorzugsweise in einem merkwürdig aus dem Körper geschraubten Dreiviertelprofil abgelichtet, gesenkte Blicke, schwere russische Seele somnabul durch Fotografen und Betrachter hindurchgleitend. Der ernste, analytische Blick des jungen Boris Pasternak (1928) ist hier die Ausnahme, ebenso wie der gänzlich ohne Methode fotografierende Meister des psychologischen Theaters, Konstantin Stanislawski (1940). Das gestische Pathos der Portraitierten wirkt oft künstlich und hohl inszeniert und erlangt so selten expressive Qualität.

Auch die künstlerische Auffassung des Nappelbaums blieb in einer Dekade, in der sich die amerikanische Sezessionisten längst einem realistischen oder dokumentarischen Stil verschcrieben hatten und in Deutschland das Neue Sehen proklamiert wurde, dem Piktorialismus der Jahrhundertwende verhaftet. Dem Vladimir Iljitsch Lenin von 1918 bleibt der berühmte habichtige Gesichtsausdruck, der Hintergrund und der Rest des Körpers sind retouchiert oder ausgeblendet: Verharmlosung eines Volkstribuns mit den Mitteln einer konventionellen Darstellung — akzeptabel gemacht für die Sofaecke des kleinen russischen Angestellten.

Ida Nappelbaum bevorzugt für ihre Aufnahmen der Demimonde von St. Petersburg mit breiten Pinselstrichen ausgemalte Hintergründe. Metallisch glänzende Lichtakzente neben der Tänzerin, Schauspielerinnen und Balletteusen verleihen ihren Protraits den luxuriösen Hauch der Fotografien eiunes Barons Adlolphe de Meyer, sind als seltsam verspielte Salonfotografien eher verwandt mit Hollywoods Art Deco-Manierismen als mit der russischen Avantgarde jener Jahre. Hier hatte sich im Atelier Nappelbaums eine Enklave der Bourgeoisie erhalten, deren konventioneller Arbeitsprinzipien sich paradoxerweise nicht nur Lenin, sondern die Creme der Sowjets bediente, unter anderem Trotzkij, Lunarcarskij und Molotov.

Unserem von Panzerkreuzern, riesigen Ernteeinsätzen, Elektrifizierungsprogrammen und Fünf-Jahresplänen geprägten Bild von der Sowjetunion ist das Verlangen nach konventiuonellen schönen Bildern oder Stars völlig unbekannt. In der Komödie »Der Kuß der Mary Pickford« (1927) von Sergej Kamarow wird dieser Konflikt zwischen künstlerische Avnatgarde und der Hollywoodsehnsucht beim Volk aufs köstlichste karikiert. Bavor Stalin begann, seinen sozialistischen Realismus zu diktieren, wurde dieser »Hang zur Dekadenz« von offizieller Seite zumindest in den frühen zwanziger Jahren noch toleriert.

Was parallel zu den Nappelbaums die Avantgarde schuf, zeigt uns Natan Fedorowskij, wenn er demnächst mit Rotschenko, El Lissitzky und Klucis zu konrtuktivistischen Ufern aufbricht. Jeannine Fiedler

Avantgarde-Galerie Natan Fedorowskij bis zum 15.11., Leibnitzstr. 60, 1/12, Katalog zur Ausstellung 12 Mark.

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