: Die „Klassenpflicht“ des Dr. Schalck
In seiner Doktorarbeit entwarf Alexander Schalck-Golodkowski 1970 einen detaillierten Plan, wie die DDR mit den Mitteln des Betrugs, der Schieberei und der Wirtschaftsspionage über Wasser zu halten sei: mit den „raffinierten“ und „verbrecherischen Methoden des Feindes“ ■ EINE DOKUMENTATION
In der vorliegenden Arbeit stellen sich die Verfasser das Ziel [...], das entwickelte gesellschaftliche System des Sozialismus umfassend zu gestalten, Vorschläge zu unterbreiten, um durch gezielte, offizielle und nichtoffizielle Maßnahmen zusätzliche Devisenquellen aufzudecken und Wege zu deren Nutzung sichtbar zu machen. Die Verfasser gehen in ihrer Darlegung vom System der feindlichen Störtätigkeit auf dem Gebiet der Außenwirtschaftsbeziehungen [...] aus.
Hinter diesem System der feindlichen Störtätigkeit orten der Doktorand Schalck und sein Co-Autor Volpert eine Konzeption des westdeutschen Imperialismus zur Liquidierung der sozialistischen Produktionsweise. Als Kronzeugen zitieren die Verfasser mehrfach ausgiebig einen späteren Lieblings-Gesprächspartner Schalcks, nämlich den CSU- Chef Franz Josef Strauß. Doch auch die eben ans Bonner Ruder gelangte sozialliberale Regierung Brandt/ Scheel hat nur Böses im Sinn: Das Anliegen der Handelspolitik der neuen Bundesregierung wird jedoch auch weiterhin darin bestehen, mittels des Ausbaus der Wirtschaftsbeziehungen zur DDR zu versuchen, die DDR ökonomisch und politisch zu unterwandern. [...] Im System der subversiven Angriffe gegen die DDR wird die wirtschaftliche Störtätigkeit als ein wesentliches Teilsystem der staatsfeindlichen Angriffe weiter ausgebaut werden, denn die Ökonomie wird nach wie vor das Hauptfeld der Klassenauseinandersetzung zur Entscheidung der Frage „Wer — Wen“ im weltweiten Klassenkampf zwischen Imperialismus und Sozialismus bleiben. [...] Aus den Aufklärungsergebnissen des MfS ergibt sich, daß die Konzerne und Geheimdienste die eigentlichen Organisatoren der wirtschaftlichen Störtätigkeit sind.
Im Kern argumentieren die Verfasser so: Schuld an der Misere des — an sich überlegenen — DDR-Wirtschaftssystems ist die wirtschaftliche Störtätigkeit des Westens. Dessen wirtschaftliche Aktivitäten werden vor dem Hintergrund des weltweiten Klassenkampfes uni sono als Feindtätigkeit begriffen. Dieses Feindschema rechtfertigt auch kriminelle Praktiken: Man holt sich ja nur wieder, was einem der böse Klassenfeind zuvor geklaut hat.
Die Nutzung feindlichen Wirtschaftspotentials
Es ist deshalb unsere Klassenpflicht, mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln des legalen und nichtoffiziellen Kampfes dem Feind ganz bzw. zeitweise finanzielle und materielle Fonds zu entziehen und deren Einsatz in tempobestimmten Zweigen der Industrie in der DDR zu nutzen. Dem westdeutschen Imperialismus sind [...] im ökonomischen Wettbewerb mit der DDR [...] alle Mittel und Methoden — einschließlich verbrecherischer — recht. [...] Der Feind versucht mit seinen raffinierten Methoden und Mitteln auch weiterhin auf Kosten des Wirtschaftspotentials der DDR, sein eigenes Wachstumstempo zu beschleunigen mit dem Ziel der ökonomischen Unterwanderung der DDR und der Restaurierung der imperialistischen Ordnung in der DDR. Das Schuldenkonto des westdeutschen Imperialismus gegenüber der DDR wächst täglich an. Aus diesen Tatsachen leiten die Verfasser der Arbeit den Klassenauftrag und die Pflicht für die zuständigen Staatsorgane der DDR ab, ständig zu prüfen und Lösungsvarianten vorzuschlagen, wie die DDR durch Ausnutzung des feindlichen Wirtschaftspotentials des westdeutschen Imperialismus das eigene industrielle Wachstumstempo entscheidend beschleunigen kann. Der Klassenauftrag sei soweit zu fassen: Dem Feind mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln und Möglichkeiten, durch Anwendung seiner eigenen Methoden und Moralbegriffe, Schaden zuzufügen sowie die sich bietenden Möglichkeiten des feindlichen Wirtschaftspotentials zur allseitigen Stärkung der DDR voll zu nutzen. Bei der Realisierung dieses Klassenauftrages kommt uns die Absicht des Feindes entgegen, die Wirtschaftsbeziehungen zur DDR auszubauen.
Daß es selbst mit der ständig beschworenen antiimperialistischen Gesinnung nicht weit her ist, wenn der schnöde Valuta-Mammon winkt, beweisen einzelne Vorschläge des Doktor Schalck; etwa die Errichtung einer Freihandelszone im Überseehafen Rostock. Die zu gründende Freihandelszone [...] sollte unter Federführung des Bereiches Kommerzielle Koordinierung im Ministerium für Außenwirtschaft, speziell den genannten abgedeckten DDR-eigenen Firmen, für die Durchführung volkswirtschaftlich attraktiver Geschäfte zur Nutzung übergeben werden. So können jegliche Arten von internationalen Handels- und Lagergeschäften durchgeführt werden, ohne daß ein direkter Zusammenhang mit der DDR hergestellt werden kann. Voraussetzung dazu ist, daß auf dem Gelände des Freihafens Büros und Lagerhallen von ausländischen Firmen unterhalten werden (auch abgedeckten DDR-Firmen), die z.B. Reexporte tarnen, als DDR offiziell nicht mögliche Handelsgeschäfte mit großen Gewinnen durchführen (z.B. Geschäfte mit rhodesischen Waren), in der DDR hergestellte Halbfertigerzeugnisse als aus anderen kapitalistischen Ländern herkömmliche Ware konfektionieren (z.B. Spirituosen und Zigaretten), Konsignationslager von kapitalistischen Firmen treuhänderisch verwalten.
Weniger wissenschaftlich gesagt: Über den Rostocker Hafen sollte das UNO-Embargo gegen das Rassistenregime in Rhodesien unterlaufen werden. Er sollte ferner „kapitalistischen Firmen“ als Drehscheibe für deren Schmuggeloperationen und Umgehungsgeschäfte dienen. Tatsächlich liefen später, in den achtziger Jahren, ein Großteil des Waffenlieferungen der 1982 gegründeten Schalck-Firma IMES.
„Abgedeckte Firmen“
Für krumme Geschäfte, jeder Mafioso weiß es, braucht man Tarnfirmen. Konsequent widmen unsere MfS- Doktoranden deren Installation ein ganzes Kapitel und liefern eine detaillierte Gebrauchsanweisung zur Gründung eigener abgedeckter Firmen bzw. Beteiligungen an bereits bestehenden Firmen im nichtsozialistischen Wirtschaftsgebiet. Dabei finden sie es zweckmäßig, verschiedene Arten von abgedeckten Firmen in ausgewählten kapitalistischen Ländern zu gründen:
1. DDR-eigene abgedeckte Handelsfirmen, die auf lange Sicht auf dem internationalen Markt wirksam sind, bzw. abgedeckte Beteiligungen in führenden Handelshäusern.
2. Abgedeckter Kauf bzw. Beteiligung an lukrativen Produktionsfirmen im kapitalistischen Ausland.
3. Gründung von abgedeckten DDR- eigenen Handelsfirmen, die unter Einsatz von wenig Grundkapital speziell für risikoreiche Geschäfte eingesetzt werden.
4. Briefkastenfirmen — die ausschließlich zur Abdeckung risikovoller Geschäfte und Sonderoperationen eingesetzt werden.
Neben der Erwirtschaftung zusätzlicher Deviseneinnahmen für den Staat sollen die abgedeckten Firmen ausdrücklich auch als Ausgangsbasen für die politisch-operative Arbeit im Operationsgebiet dienen. Auf deutsch: Sie sollen Wirtschaftsspionage betreiben.
Bei der Installation der Tarnfirmen ist höchste Professionalität angesagt: Die Leitung solcher Firmen wird mit Strohmännern besetzt. Zudem muß gewährleistet sein, daß über mehrere Etappen die Herkunft des Geldes verschleiert wird.
Als idealen Standort für ihre Tarnfirmen machen die Verfasser das Fürstentum Liechtenstein und die Schweiz aus. Schwierigkeiten sehen sie bei der Personalsuche. DDR- Bürger scheiden ja zunächst aus. Die wenigen vorliegenden Erfahrungen bei der Gründung von abgedeckten DDR-eigenen Firmen zeigen, daß in der Auswahl und Suche von Vertrauenspersonen, die als vorgeschobene Personen bei der Finanzierung, bei Notariatsakten oder als Firmeninhaber bzw. Teilhaber auftreten, das schwierigste Problem besteht. Schließlich besteht immer die Gefahr, daß ein solcher Strohmann mit dem von den DDR-Hintermännern vorgestreckten Gründungskapital verduftet. Doch gerade in Liechtenstein und der Schweiz, das weiß jeder rechte Schieber von Welt, mangelt es nicht an kooperationswilligen Bankern.
Es hat sich in der Praxis als besonders bedeutungsvoll erwiesen, daß immer stärker die entscheidende Rolle bei der Gründung von Firmen und deren Unterhaltung eine echte Vertrauensbank mit Sitz in einem Land, in dem ein unbeschränkter Devisentransfer garantiert wird, spielt. Diese bisherigen Erfahrungen ergeben sich aus der Zusammenarbeit mit einem langansässigen Bankhaus in der Schweiz und einer Westberliner privaten Bankgesellschaft. Für die Durchführung spezieller Bankoperationen der Firmen eignen sich keine Großbanken. Die Abdeckung der Bankverbindungen erfolgt über Nummernkonten und Deckadressen für die Bankpost. Der Prokurist oder Inhaber der Bank, der als Vertrauensperson der abgedeckten DDR-eigenen Firma fungiert, ist ein wichtiger Geheimnisträger, da er neben dem Firmengründer, bzw. vorgeschobenen Finanzier gegenüber den ausländischen Behörden zugleich auch die Kontaktpersonen aus der DDR persönlich kennt. [...] Der Vorteil der direkten Kontaktpflege besteht darin, daß durch das persönliche Kennenlernen und der Möglichkeit der Gewinnung des Geschäftspartners für spezielle Geld- und Finanzoperationen mit der Zeit ein ständiger politisch-ideologischer Einfluß auf die Person erfolgt und somit eine gute Basis für beiderseitige erfolgreiche Zusammenarbeit geschaffen wird.
Ganz der Praxis verpflichtet schlagen die Verfasser dann vor:
— Es ist sofort eine kurzfristige, abrufbereite Kaderreserve von mindestens 10 erfahrenen ausländischen Staatsbürgern für die Gründung bzw. Beteiligung an bestehenden Firmen aufzustellen.
— Es ist ein Netz von internationalen Bankverbindungen [...] aufzubauen.
— Die taktisch-operative Variante der etappenweisen Gründung von Auslandsfirmen müßte nach prinzipieller Bestätigung des Vorgehens innerhalb von 6 Wochen ausgearbeitet und vorgelegt werden.
— Die Steuerung und Leitung der Auslandsfirmen erfolgt vom Bereich Kommerzielle Koordinierung. Aus Gründen der Geheimhaltung sollte außerhalb des MfS kein anderes Organ der DDR informiert und eingeschaltet werden.
— Für die Gründung bzw. Beteiligung an kapitalistischen Firmen sind für den Zeitraum 1970 — 1972 ca. 10 Millionen Valutamark als Grundmittel bereitzustellen.
— Für die Durchführung der gestellten Aufgaben ist der Bereich Kommerzielle Koordinierung in enger Zusammenarbeit mit dem MfS verantwortlich zu machen.
Spionage nebenbei
Die Verfasser gehen [...] von dem Grundgedanken aus, daß in der kapitalistischen Gesellschaftsordnung eine Vielzahl von Personen käuflich sind und bei entsprechenden hohen Gewinnaussichten zu jeder Art von Geschäften legaler und illegaler Art und auch zur nachrichtendienstlichen Tätigkeit bereit sind. [...] Wir schätzen ein, daß eine operative Nutzung der Firmen, vor allem auf dem Gebiet der Sammlung von Wirtschaftsinformationen in anderen kapitalistischen Staaten möglich ist. Entsprechend den konkreten Gegebenheiten können diese Firmen, ohne in der Verdacht einer nachrichtendienstlichen Tätigkeit zu kommen, für nachfolgende Aufgaben eingesetzt werden:
— Wichtige Forschungsergebnisse bestimmter Industriezweige [...] sammeln oder aufkaufen.
— Aufkauf neuentwicklter Spitzenerzeugnisse.
— Beschaffung von Erzeugnissen und Produkten, die der strengen Embargobestimmung unterliegen und die die DDR offiziell nicht aufkaufen kann. Eine Ausnutzung in vorgenannter Richtung könnte den Vorteil haben, Forschungs- und Entwicklungsgelder in der DDR in großem Umfange einzusparen.
Die Beschaffung von Embargowaren hat für die weitere Stärkung der militärischen Überlegenheit des sozialistischen Lagers Bedeutung. Die Ausrichtung der abgedeckten Firmen auf solche speziellen Teilgebiete der operativen Arbeit bringt einen großen zusätzlichen ökonomischen aber auch militärischen Nutzen für die DDR. Die kommerzielle und operative Nutzung solcher Firmen setzt im MfS eine federführende Abteilung voraus.
Strohmänner mit Charakter
Mitarbeiter verdeckter Auslandsfirmen, die für operative Aufgaben eingesetzt werden sollen, müssen folgende Charaktereigenschaften haben:
— Es muß ein echtes Vertrauensverhältnis der Personen zur DDR bzw. zum MfS vorhanden sein.
— Es müssen echte Garantien gegeben sein, die die Einschätzung zulassen, daß eine solche Person der DDR bzw. dem MfS treu ergeben ist.
— Die Person muß charakterlich, kontaktfreudig, anpassungsfähig, beweglich und mit einem soliden Fach- und Sachwissen ausgerüstet sein, über eine gute Allgemeinbildung, vor allem Sprachkenntnisse, eine gute und saubere äußere Erscheinung verfügen.
Die Werbung neuer IM-Kandidaten (IM = Informeller Mitarbeiter) aus dem Personenkreis der Firmen darf in der Regel erst dann erfolgen, wenn die gegründete abgedeckte Firma bereits auf eigenen Füßen steht und existenzfähig ist. Als Hauptmethode der operativen Nutzung der Firmen ist nach Ansicht der Verfasser der Weg des Abschöpfens der Firmenmitarbeiter unter dem Vorwand geschäftlicher Notwendigkeiten durch die Verbindungspersonen der DDR zu gehen. Zusammengestellt
von Thomas Scheuer
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