: Vom Arbeitnehmer zum Unternehmer
■ Abgewickelte Arbeiter der Ostfirma Bergmann-Borsig schaffen sich neue Arbeitsplätze/ Pro Kopf 1.000 DM Startkapital
Pankow. »Wenn erst mal die Lähmung vorbei ist, muß man mit uns rechnen. Wir können improvisieren, und wir sind bescheiden.« So beschreibt Gerd Seidel, Betriebsrat und Vorsitzender des Vertrauensleutekörpers bei Bergmann-Borsig in Berlin-Pankow die zukunftsträchtigen Qualitäten seiner Kollegen.
Fünfzig von ihnen haben im Sommer, nachdem weder der neue Besitzer (ABB Mannheim) der traditionsreichen Fabrik noch die zuständige Gewerkschaft IG-Metall Alternativen für die 1.200 Entlassenen anbieten konnten, die gemeinnützige Arbeitsförderungsgesellschaft für Wärme- und Umwelttechnik mbH (WTU) gegründet.
Jeder hat 1.000 DM eingezahlt, außerdem beteiligte sich die Geschäftsleitung von ABB mit einer Spende, so daß sie mit insgesamt 100.000 DM Startkapital anfangen konnten. Auf diesen Anfang sind sie sehr stolz. »Wir sind die erste wirklich arbeitende Arbeitsförderungsgesellschaft hier in Ost-Berlin«, meint der Betriebsrat.
Die ehemaligen Kraftwerksbauer der DDR bauen jetzt zum Beispiel Windkraftanlagen, sanieren Heizkraftwerke, montieren versicherungsgerechte Fahrradständer auf Schulhöfen und entwerfen unter sachkundiger Anleitung einer leidgeprüften Krankenschwester ein neues Krankenhausbett.
Neben ihrer Improvisationsgabe kommt den bislang 100 Mitarbeitern zugute, daß sie Räumlichkeiten auf dem Gelände von Bergmann-Borsig nutzen können. Ein Mietvertrag wird demnächst gemacht. Aufträge, Ideen und Projekte liegen in einer so hohen Zahl vor, daß man bis Jahresende mit 200 Beschäftigten rechnet. Einige Aufträge sind schon so umfangreich, daß sie an andere Firmen weitergegeben werden müssen.
Bescheidenheit allerdings ist angesagt, noch werden die Arbeitsplätze schließlich als AB-Maßnahmen vom Arbeitsamt bezahlt und sind deshalb auch lediglich für ein Jahr sicher. An der Arbeitsmotivation der derzeit Beschäftigten ist aber kaum zu zweifeln. Viele von ihnen haben jenes kritische Alter erreicht, mit dem sie auf dem Arbeitsmarkt nur noch schlecht vermittelbar sind.
»Unser Vorteil ist, wir brauchen uns nicht mehr reinreden lassen, wir bereiten hier unser eigenes Unternehmen vor«, so beschreibt Gerd Seidel, umtriebiger Organisator und Betriebsrat der ersten (Umbruchs-) Stunde bei Bergmann-Borsig die Vorteile der neuen Konstruktion. Insbesondere seinem Engagement und der Unterstützung des gesamten Betriebsrates ist es zu verdanken, daß man heute schon arbeitet. Denn Widerstände gab es mehr als genug. Die neue Geschäftsleitung konzentriert sich auf die Modernisierung des bestehenden Betriebes, sie sperrte sich zunächst gegen eine Arbeitsförderungsgesellschaft auf ihrem Gelände.
Die Wirtschaftsberatungsgesellschaft des Berliner Senats wird auch nicht gerade mit freundlichen Worten bedacht. Ihren Beschäftigten traut man große Kompetenz und vor allem Marktkenntnis nicht zu. Auch bei der IG Metall soll man nicht gerade erfreut reagiert haben, als die Kollegen von Bergmann-Borsig andere Unternehmen aufforderten, nicht auf die Einrichtung regionaler Servicegesellschaften (an deren Trägerorganisation die Gewerkschaften beteiligt sind) zu warten, sondern eigene GmbHs zu gründen.
Ob Improvisationsgabe, Bescheidenheit und wie in diesem Falle auch Unternehmergeist ausreichen werden, um »abgewickelten« Industriearbeitern eine Zukunft auf der Basis ihrer bisherigen Ausbildung zu ermöglichen, ist noch ungewiß. Zur Zeit erledigen sie ja noch hauptsächlich Reparaturarbeiten an der zusammengebrochenen DDR, die auch mittelständische Handwerksbetriebe ausführen könnten. Die freilich, so ein entscheidendes Argument der Betreiber der WTU, könnten ihre Fähigkeiten momentan nicht so billig anbieten.
Die WTU kann z.B. bei der Sanierung der Heizkraftwerke auf die Berechnung der Löhne gegenüber der Kommune verzichten. Die Löhne zahlt das Arbeitsamt. Ohne dieses preiswerte Angebot der WTU könnten wiederum die Kommunen die Arbeiten aber gar nicht anfordern, da sie in ihrem Haushalt nur über begrenzte Möglichkeiten verfügen. Da man bei der WTU keine Konkurrenz zu Handwerksbetrieben möchte, überlegt man derzeit Möglichkeiten ihrer Beteiligung an Großprojekten. Eine stabile Zukunft der WTU wird es allerdings erst dann geben, wenn »richtiges« Geld verdient wird.
Auf jeden Fall beseitigt die Konstruktion einer gemeinnützigen GmbH in diesem Falle — so Gerd Seidel — eine psychologische Barriere: »Viele bei uns haben zwar gelernt zu improvisieren, aber sie trauen sich nicht zu, es auch zu tun.« Martin Jander/Stefan Lutz
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