: Schicksal der doppelt Betrogenen
Der Arbeitskreis „Memorial“ beschäftigt sich mit dem Schicksal sowjetischer Zwangsarbeiter, die im Dritten Reich nach Deutschland verschleppt und später dafür in ihrer Heimat verfolgt wurden ■ Aus Köln Ingo Zander
„Die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Putsch in der Sowjetunion haben mich in die Archive des KGB gebracht. Ich stellte fest, daß in allen KGB-Archiven Berichte über Zwangsarbeiter liegen — über ihre Jahre in Nazi-Deutschland, aber auch über die danach in der Sowjetunion.“
Dies berichtete am vergangenen Wochenende der sowjetische Historiker Arsenij Roginskij auf einer Veranstaltung der Heinrich-Böll- Stiftung in Köln. Mittlerweile gibt es Hunderte von Initiativen und Einzelinteressierten, die auf deutscher Seite die Geschichte der Ausbeutung verschleppter ZwangsarbeiterInnen in ihren Kommunen aufarbeiten wollen. Der Arbeitskreis „Memorial“ in der Böll-Stiftung will für diese Gruppen die Kommunikation zum gleichnamigen sowjetischen Schwester- Arbeitskreis erleichtern, um das Schicksal der Menschen öffentlich aufzuarbeiten, die unter die Räder gleich zweier totalitärer Regimes gerieten.
„Im 20. Jahrhundert versinkt der einzelne im Gesamtkonzept der Macht“, beschrieb der sowjetische Historiker Nikita Ochotin die Signatur des Zeitalters, das es aus der Perspektive des einzelnen Opfers zu erforschen gilt. Er, Roginskij, der 1946 selbst in einem stalinistischen Lager zur Welt kam, und andere fanden sich Ende der achtziger Jahre in der Memorial-Bewegung zusammen, um die Geschichte des Stalinismus ohne partei- oder staatspolitische Rücksichtnahme zu erforschen. Vor der Gorbatschow-Ära im Verborgenen — und mancher ging dafür ins Lager —, unter Gorbatschow öffentlich. Die „Ostarbeiter“, wie es im Jargon der Nazis hieß, mußten erleben, daß ihr Schicksal nach der Befreiung vom Nationalsozialismus in der UdSSR als Verrat am „Heimatland“ ausgelegt wurde. Die Opfer wurden wie Täter behandelt.
Bis Mitte der fünfziger Jahre — manchmal länger — standen viele der ehemaligen ZwangsarbeiterInnen unter Beobachtung des KGB und wurden darüber hinaus Opfer von Denunziationen durch Nachbarn und Arbeitskollegen. Roginskij konnte bei seinem kurzen Einblick in die KGB-Akten Briefe wie diesen lesen: „Ich kann nicht leben. Ich fühle mich schuldig. Alle verteidigten die Heimat, aber wir beide sind schuldig.“ Das schrieb eine Zwangsarbeiterin an eine Freundin.
Memorial kann aber auch auf andere Quellen zurückgreifen — mittlerweile liegen 380.000 Briefe von ehemaligen OstarbeiterInnen in den Büros. Verursacht wurde dies durch eine Falschmeldung in der sowjetischen Presse, wonach Memorial dem besagten Personenkreis als Entschädigung eine Rente zahle. Die Briefe sollen jetzt auch deutschen Initiativen helfen, über die Vermittlung durch die deutsche Memorial- Gruppe ehemalige ZwangsarbeiterInnen aus der UdSSR nach Deutschland einladen zu können. — Joachim Woock, Geschichtslehrer im niedersächsischen Verden, hat auf die Hilfe der Memorial-Leute schon zurückgreifen können. Woock arbeitet seit 1987 mit SchülerInnen an der Erforschung der Geschichte der ZwangsarbeiterInnen im Kreis Verden. Über Memorial konnte er einen Aufruf veröffentlichen, daß sich SowjetbürgerInnen melden sollten, die im Dritten Reich nach Verden verschleppt worden waren. Daraufhin erhielt er 200 Briefe. Diese Leute sollen nun gemeinsam mit Opfern aus Polen, Belgien und den Niederlanden nach Deutschland eingeladen werden. Die Kosten von etwa 350.000 Mark sollen die Kommunen und der Kreis bezahlen — der Landrat hat bereits positiv reagiert. „Den Rest der Briefe können wir anderen Initiativen zugänglich machen“, meint Woock. Auch deshalb ist die Vernetzung von Memorial nützlich.
Kein Wille zur Entschädigung
Tamara Frankenberger, Diplom-Pädagogin aus Essen, hofft bald selbst sowjetische Quellen studieren zu können. Sie stellte bei ihren Recherchen fest, daß für verstorbene Kinder von Zwangsarbeitern in den Wöchnerinnenheimen der Firma Krupp immer die gleiche Todesursache angegeben wurde. Kachexie — das heißt Auszehrung. „Man kann daraus schließen, daß man die Kinder verhundern ließ“, vermutet sie.
Die Rechtsnachfolger der Firmen, die ZwangsarbeiterInnen ausbeuteten, zeigen sich nicht willig, diese Menschen finanziell „zu entschädigen“. Auch die Bundesregierung läßt seit Jahren keine Bereitschaft erkennen die doppelt Betrogenen zu entschädigen.
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