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Über das Fisch-Happening in den internationalen Strom

„Kunst-Mythos“ — Boom auf der Kunstmesse in Moskau  ■ Von Barbara Kerneck

Art-Mif“, zu deutsch „Kunst- Mythos“ — die Schrift prangte vom 8. bis zum 14. Oktober auf einem silbernen, kugelrunden Zeppelin am Moskauer Manege-Platz. Der Zeppelin war sozusagen ein Nachfolger des demonstrativen Luftschiffes, das mit einer Bauchbinde in den russischen Farben in den Tagen des August-Putsches über dem „Weißen Haus“ am Moskwa-Fluß geschwebt hatte. Und an Hinweisen auf die schweren Zeiten und Dank an das Moskauer Bürgermeisteramt für dessen tatkräftige Unterstützung fehlte es nicht bei der Eröffnung der Ausstellung in der sechstausend Quadratmeter weiten und breiten Manege-Halle. Der hier repräsentierte potentielle Kunstmarkt war ebenfalls beispiellos in seiner Ausdehnung: in Einzelboxen präsentierten sich nicht nur russische Galerien, sondern auch Aussteller aus dem Baltikum, der Ukraine, Belorußland, Moldawa, aus Mittelasien und dem Transkaukasus, insgesamt über sechzig aus einem Gebiet, das doppelt so groß ist wie die USA. Fünf Teilnehmern aus dem Ausland kam die ehrenvolle Funktion zu, die internationale Einbindung des postsowjetischen Kunstgeschehens zu repräsentieren. Die Herstellung eines realen Kunstmarktes ist angesichts von Nationalitätenzwist und Wirtschaftskrise keine dankbare Aufgabe, aber kein geringeres Ziel hatten sich die Veranstalter gesetzt. Und im Namen dieses Moskauer Galeristen-Konsortiums und der Sponsoren — der jungen sowjetischen Inkombank; einiger Joint-ventures, der Fernsehgesellschaft WID und Radio Europa — drückte Hauptmanager Gorgij Nikitsch am Eröffnungstage die Hoffnung aus, den Kommerzialisierungsprozeß durch die aktuelle Messe zu humanisieren und in zivilisierte Bahnen zu leiten.

Wenn es also an „Kunst“ nicht mangelte, war dies dann der „Mythos“? Oder bezog sich der zweite Teil des Ausstellungsnamens auf die zahlreichen dargebotenen Werke im New-Age-Stil, auf denen es von Jesussen, Salomes und sich in Kristallen brechenden Strahlen nur so wimmelte? Die Vielfalt war es, die dem Publikum gefiel. Er sei „einfach begeistert, hier einmal alles auf einem Haufen zu sehen, womit ich mich sonst nur im einzelnen habe bekannt machen können“, erklärte ein Architektur-Student. Selten Erhältliches war am Rande zu bestaunen, wenn auch für die meisten Besucher der horrenden Preise wegen nicht zu kaufen: von Büchern über Porzellan bis hin zu russischen Trachten. Einige ältere Damen fanden einen noch konkreteren moralischen Halt auf „Art-Mif“: Nach einem Happening am Sonntag abend, auf dem viel getrommelt und mit den russischen Grundnahrungsmitteln herumgeworfen wurde: Heringen, roten Beeten und Schwarzbrotlaiben, sammelten sie die Fische und Brote auf — „zum Andenken“, wie sie verschämt erklärten. Gleich neben der Bühne, auf der allerhand Performances das Ausstellungsgeschehen belebten, hingen die Bilder der beiden Frankfurter Künstlerinnen Renate Sautermeister und Ann Reder, zusammen mit der nichtkommerziellen Galerie „Patio“, ebenfalls aus Frankfurt, die einzigen deutschen Teilnehmer. Für sie war die Teilnahme keine „Fahrt ins Blaue“, wie eine nicht teilnehmende russische Künstlerin in der Messezeitschrift unter der Überschrift „Wozu soll ich mir noch mehr Kopfschmerzen machen?“ geargwöhnt hatte. In dem Artikel prophezeite sie im übrigen das Ausbleiben eines Kataloges. Tatsächlich fehlte der Gesamtkatalog noch am letzten Tage der Ausstellung. Er war — in Frankreich gedruckt — dortselbst „steckengeblieben“, wie die offizielle Erklärung lautete. Nicht steckengeblieben, sondern nach tagelanger Beargwöhnung durch den Zoll kurz nach Ausstellungsbeginn immerhin ausgepackt waren die Kisten der Frankfurter. Woraufhin Dr. Klaus Klemp, Leiter des Amtes für Wissenschaft und Kunst, mit bereits sowjetischer Improvisationsfreude einen Informationsstand zusammenbaute und das 'Art‘-Magazin „Frankfurt“ an die Moskauer verteilte.

Es brauche wohl „noch ein Weilchen“, bis sich die sowjetische Kunst in den internationalen Strom einwebe, meinte vorsichtig Friedel Münchwander von „Patio“. Auf sie waren während der sechs Ausstellungstage zahlreiche sowjetische Künstler zugekommen, die im Westen auszustellen hofften. „Die Vermarktung bei uns stellen sich viele hier recht einfach vor. Das Ausmaß der Konkurrenz wird unterschätzt.“ Frau Münchwander konstatierte die Dominanz „realistischer“ Malweisen, was einige Moskauer Künstler mit der Voreingenommenheit der Jury erklären. Doch Jeljena Borisowna Jefimowitsch von der Galerie „Segodnja“ („Heute“), Vorsitzende des Auswahlausschusses, wies diese Behauptung weit von sich: „Daß bei uns nun einmal jahrzehntelang die realistische Kunst gefördert wurde, kann nicht ohne Folgen bleiben. Uns standen die Haare zu Berge, als wir sahen, woraus wir auswählen sollten und wie wenig qualitativ Hervorragendes darunter war. Und dann haben wir schließlich viel Kitsch ganz bewußt in Kauf genommen, um die Halle finanzieren zu können.“ „Segodnja“ selbst zeigte einige der besten Arbeiten auf „Art-Mif“, die zugleich zwei in Rußland eigenständig entwickelte Tendenzen präsentieren: einerseits frappierende technische Konstruktionen, zwei- und mehrdimensional, andererseits flächige, ungegenständliche Arbeiten, die an Malewitschs Ikonen der Moderne erinnern.

Nikita Gaschnunin gehört zu denen, die Objektkunst und Malerei nicht trennen. Mit Papp-Bastelbogen für Schüler, auf denen unzählige Rädchen, Schräubchen und Schläuche dargestellt sind, mit Silberfolie, Sprühnebel und Glitzersternchen hat er ein beeindruckendes Raumschiff in astralen Nebel gebettet, bevölkert von maschinellen Höllenhunden, die dem Betrachter mit aufgerissenen Rachen entgegenfiebern. Der Name des Bildes: Schon nahe. Gleich daneben hängen die stillen, naturfarben bemalten Holzkonstruktionen von Marija Elkonina — wie südliche Fensterläden, Kathedralenportale, die heimliche Augen haben. Die flächige Malerei repräsentiert für die Sankt Petersburger Galerie „10“ eindrucksvoll Gleb Bogomolow. Seine Tableaus sind in brüchigen Schichten mit leuchtenden Lackfarben beschichtet, darunter reichlich Gold, Rot und Schwarz, in die mit spitzen Instrumenten feine Risse in Paul- Klee-Manier gegraben wurden. Wieder Gegenständliches und schon fast Klassisches hat die New Yorker Galerie Bermann auf „Art- Mif“ verkauft: eines der puppenlustigen, naiven und an Sexualorganen reichen Bilder Leonid Purygins und ein eindrucksvolles Mammutbild von Leonid Sokow: Aus einer Talsperre ragt der Kirchturm eines versunkenen Dorfes, diesen ziert in braver altmodischer Plakatschrift ein recht schräger Spruch — wegen seiner gekonnten Reime unübersetzbar. Käufer war eine relativ junge sowjetische Bank. Manche Propheten müssen eben erst einmal ihr Land verlassen, um den eigenen Wert zu steigern.

Ob dies auch für den Künstler W. Schulschenko gilt? Sein Bild Lenin und die Bauern war der bieder-nationalistischen Tageszeitung 'Sowjetskaja Rossija‘ nun wieder zu realistisch. Lenin wirkt darauf selbstzufrieden-rüpelhaft, und die Bauern weisen Spuren generationenlangen Alkoholmißbrauches auf. „Die Frucht der exaltierten Phantasie des Künstlers“, resümierte die 'Sowjetskaja Rossija‘. Das Angebot der „New Gallery“ müßte der Zeitung gefallen. Diese trotz allem russische Firma präsentierte auf „Art-Mif“ gezielt die offizielle Soz-Art der Nachkriegszeit: taubenfütternde Mütter, wartende Bräute, der unvermeidliche „Brief von der Front“ und als Krönung einen Chruschtschow auf dem Balkon des Pariser Geburtshauses von Lenin mit zujubelnden Damen und Blumen, wie ihn Spitzweg nicht besser hingekriegt hätte. Die „New Gallery“ verspricht sich vor allem vom Auslandsgeschäft einiges, wie ihr Vertreter erklärte, „weil diese Periode in den dortigen Museen unzureichend dokumentiert ist“. Im übrigen sucht sie Kunden, denen diese Zeit „genauso lieb und weich erscheint wie uns und deren Seele angesichts der Zerrissenheit ihrer heutigen Umwelt und der modernen Kunst bei diesen Bildern ausruht“. Zerrissen ist, wenn man Walerij Slawinskij von der Galerie „Les Oreades“ glauben darf, vor allem die soziale Sphäre der postsowjetischen Kunst. Die eigentlichen Kenner hätten mit der Perspektive der Auflösung der Künstlerverbände zu kämpfen, die ihnen bisher Schutz boten. Das Publikum mit Geschmack sei zu arm, um sich Kunstwerke leisten zu können, und die neuen Millionäre hätten eher Interesse, die Preise hochzutreiben, als ein gedeihliches Milieu für erstklassige Kunst zu schaffen. In diesem Sinne faßte Slawinskij die Situation zusammen, blieb aber optimistisch: „Hier wurden Bausteine sowohl für neue kommerzielle Beziehungen gelegt als auch für eine neue künstlerische Kultur, die nicht mehr durch staatliche Rahmen eingeschränkt ist. Die europäischen Adern, die durch die alte Politik abgebunden wurden, führen jetzt wieder Blut in alle Richtungen. Unsere Galerie ,Les Oreades‘ hätte sogar dann Nutzen von ,Art-Mif‘ verspürt, wenn es ihr nicht gelungen wäre, etwas zu verkaufen. Wir hatten hier gewaltige Möglichkeiten, Kontakte zu schließen, die uns langfristigen kommerziellen Erfolg erst ermöglichen.“ Die roten Punkte neben zahlreichen Bildern zeugten am letzten Tage auch von aktuellen Verkaufserfolgen der meisten Aussteller. Paradoxerweise steht dem Galeriensterben im Westen ein ungebremster Boom im postsowjetischen Raum gegenüber. „Art-Mif“ ist eine Zeitbombe. Die Moskauer Messe soll nun jährlich stattfinden. Bis dahin gilt, was ein Milizionär in der Aufbruchstimmung des letzten Tages dem Publikum verkündete: „Geht nach Hause, die Heringe sind alle!“

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