Rembrandt als Erzieher aller Deutschen?

■ Wie der Schriftsteller Julius Langbehn aus Rembrandt einen deutschen Maler machte

Bis zum 10. November 1991 kann im Alten Museum am Lustgarten eine der angeblich wichtigsten Ausstellungen dieses Jahrzehnts besucht werden: Rembrandt, der Meister und seine Werkstatt. Wer stolzer Inhaber einer American-Express-Kreditkarte ist, darf sogar mittwochs abends die Kunst im Kreise Gleichgesinnter genießen.

Rembrandt ist aber vor etwa hundert Jahren auch von einer ganz anderen Seite betrachtet worden — für uns heute nur noch unter der Rubrik »Skurrilitäten« einzuordnen.

Um die Jahrhundertwende ist ein gewisser Langbehn mit einem Buch Rembrandt als Erzieher berühmt geworden. Seitdem hieß der Autor nur noch der »Rembrandtdeutsche«. Es handelte sich um den heute fast völlig vergessenen Schriftsteller Julius Langbehn, geboren am 26. März 1851 in Hardersleben/Nordschleswig (Dänemark). 1890 erschien der Bestseller. Der Autor wurde nicht genannt. Auf dem Bucheinband hieß es schlicht und geheimnisvoll »Von einem Deutschen«. Das nur zwei Mark teure Buch brachte es im ersten Erscheinungsjahr auf 60.000 Exemplare. 1933 war von dem 300-Seiten- Werk schon die 80. Auflage überschritten. Kaiser Wilhelm II. las es, Bismarck lud den Verfasser ein. In der Künstlerkolonie Worpswede wurde darüber diskutiert. In den 20er Jahren war der »Rembrandtdeutsche« ein beliebtes Konfirmations- und Kommunionsgeschenk. Es gehörte zum Bestand vieler Schülerbibliotheken. Man kann allerdings mit Recht bezweifeln, daß die Beschenkten das teilweise wirre Buch überhaupt gelesen haben.

Der von manchen Zeitgenossen als schizophren eingeschätzte Julius Langbehn hatte offensichtlich den Zeitgeist getroffen. Deutschland war auf der Suche nach einem neuen Selbstbewußtsein, auf der Suche nach Tradition in einer Zeit der gesellschaftlichen Veränderungen durch die Technik und soziale Bewegungen. Wie andere Schriftsteller und Philosophen meinte Langbehn einen kulturellen Niedergang feststellen zu müssen, dem man Einhalt gebieten müsse. Dem »demokratisierenden, nivellierenden, atomisierenden Geist des jetzigen Jahrhunderts« gab er die Schuld dafür. Seine Lösung: Man nehme Rembrandt als gutes Beispiel und orientiere sich an ihm, an seiner Art zu leben und das Leben zu interpretieren. Warum aber gerade Rembrandt?

»Unter allen deutschen Künstlern ist der individuellste: Rembrandt. Der Deutsche will seinem eigenen Kopf folgen, und niemand tut es mehr als Rembrandt; in diesem Sinne muß er geradezu als der deutscheste... Maler und sogar der deutscheste der deutschen Künstler genannt werden.« Da bleibt einem die Spucke weg! Der holländische Maler Rembrandt wird zu einem Ideal-Deutschen erklärt! Langbehn hat dies damit begründet, daß Rembrandt zwar nicht politisch, aber innerlich zu den Deutschen gehört hat. Der Autor scheint hier nach dem Motto vorgegangen zu sein, daß sich die Wirklichkeit nach dem Wunsch zu richten habe.

Andererseits kommt in der Wahl eines Niederländers als Idealdeutschem auch zum Ausdruck, daß Langbehn pangermanische Gedanken hatte. Vom Niederländer zu seinem Idealmenschen, dem »Niederdeutschen«, ist es nicht weit.

Was zeichnete Rembrandt als Lehrer der Deutschen besonders aus? Langbehn entwickelte an ihm die neue Gesellschaft. Im Individuum, nicht in der Masse, sollte die Zukunft Deutschlands liegen. Die Deutschen sollten wieder ein Volk der »Bauern und Seefahrer« werden. Deutsche Größe sollte sich auf den Weltmeeren zeigen, Deutschland als »Mutter« sollte sich gegenüber England als »Tochter« behaupten.

Das waren Wohlklänge in den Ohren von Kaiser Wilhelm II., der mit seinem Flottentick die deutsche Kriegsmarine aufrüstete. Die Führungsrolle in der Gesellschaft sollte nicht etwa eine demokratisch gewählte Regierung haben, sondern eine Elite. Der »Rembrandtdeutsche« war Anhänger des Führerprinzips, sich selbst bezeichnete er als Aristokraten. Die »Besten« sollten ihr Können dem Volk zur Verfügung stellen. Genialität war für Langbehn »die Mischung höchster Besonnenheit mit höchster Leidenschaft; aber so, daß die Besonnenheit stets als die führende, die Leidenschaft als die geführte Kraft erscheint«.

Aus heutiger Sicht ist es kaum verständlich, daß Langbehn mit diesen über weite Strecken unklaren Formulierungen und Andeutungen, unausgegorenen Konzepten und die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung ignorierenden Standpunkten Erfolg haben konnte.

Es läßt nur einen Schluß zu: Die Gesellschaft, für die Langbehn sein Buch geschrieben hatte, war selbst verwirrt und tief verunsichert. Jeder konnte sich aus dem »Steinbruch« des Buches das herausholen, was ihm in sein Wunschbild paßte.

Das Leben Langbehns blieb genauso undurchsichtig wie sein praktisch einziges Werk. Langbehn hatte den »Rembrandtdeutschen« anonym geschrieben, und anonym wollte er auch bleiben. Nach seinem Tode erst wurden Einzelheiten aus seinem Leben bekannt. Sein Vater war Konrektor in Hadersleben, verlor aber im preußisch-dänischen Konflikt um 1850 sein Amt und starb bald danach. Als einziger in der Familie konnte Julius studieren, zuerst in Kiel, dann in München. Im Krieg 1870/71 war er Reserveoffizier. Nach seinem Studium hat er sich mit kleinen Artikeln und Privatunterricht durchgeschlagen, bis er Rembrandt als Erzieher veröffentlichte. Den Hang, sich selbst im Nebel zu bewegen, hat er bis zu seinem Tode nicht aufgegeben. Am 30.4.1907 starb er in Rosenheim/Bayern, wahrscheinlich an einem Krebsleiden, das er wie er viele reale Dinge durch Nichtbeachtung überwinden wollte. Der katholische Pfarrer in Puch/Oberbayern — Langbehn war zum Katholizismus konvertiert — beerdigte ihn, ohne zu wissen, um wen es sich handelte. Auf seinem Grab stand lange Zeit nur ein schmiedeeisernes Kreuz mit den Buchstaben »A.J.L. geb. 1851, gest. 1907«.

Die deutsche Minderheit in Nordschleswig/Dänemark hält Langbehn noch heute in Ehren. In Knivsbjerg, etwa 30 km nördlich der Grenze zu Deutschland, trägt das Jugendzentrum des deutschen Vereins den Namen von Julius Langbehn, dessen Geburtsort Harderleben nicht weit entfernt ist.

Ob sich die liberale deutsche Minderheit in Dänemark einen Gefallen damit tut, an diesen verworrenen Kopf deutschen Geistes anzuknüpfen? Jürgen Karwelat

Literatur: Rembrandt als Erzieher, Von einem Deutschen (Julius Langbehn), 67.-71. Auflage, Leipzig 1926

Clara Menck, Die falsch gestellte Weltenuhr: Der »Rembrandtdeutsche« Julius Langbehn, in: Propheten des Nationalismus, hrsg. von Karl Schwedhelm, List Verlag 1969

Rudolf K. Goldschmit-Jentner, Vollender und Verwandler, Versuche über das Genie und seine Schicksale, Hamburg 1952