: Ein Hirt lockt in der Hölle
■ Alice Cooper als großer alter Mann in der Deutschlandhalle
Vollgekifft« und »angesoffen« fahren vor allem Männergruppen zwischen 25 und 40 Richtung Deutschlandhalle. Krakeelen wohl ein bißchen in U-Bahn und Bus, um auch den Frauen zu imponieren, erkunden dann, in Vierer- oder Sechsergruppen — der Glücklichste hat zuweilen seine Freundin dabei — die Halle. Rührend und traurig anzusehen ist ein schmaler Mann mit allen Insignien männlich-kräftigen Rockertums, dessen Gesicht jedoch eher in die sechzig spielt; als zufriedener Rockerbuddha schlendert betrunken ein anderer vorbei.
Die neuen Fans, die Alice Coopers letzte Platten millionenfach gekauft haben, verlieren sich ein wenig zwischen denen, die wirken, als seien sie aus dem Norderstedt (eine Hamburger Vorstadt, d. Red.) der mittleren siebziger herübergebeamt worden. Irgendwann findet sich auch der richtige Alice Cooper-Fan: mit schwarz geschminkten, horizontalen Kajalbalkenaugenrändern unter der Nickelbrille, mit Glam- und Hippietransvestitenphantasien im Kopf.
Heute ist Alice Cooper ganz und mit aller Konsequenz Rocker. Dafür muß er sich mit seinen 46 Jahren in eine Ledermodenmontur quetschen, die Peitsche schwingen und den »Muscle of Love« spielen lassen. Dann klatschen die Zuschauer und wippen mit. Die meiste Zeit unterhält der schlaksige Kerl, der bei seinen Bühnenaktionen eher an einen headbangenden Ilja Richter, denn an einen Beelzebuben erinnert, mit Rückblicken in seine 70er-Jahre-Vergangenheit.
Under my wheels als Einstiegshymne, dann ein wenig Billion Dollar Babies (»Trillion«, »Zillion«) und No More Mr. Nice Guy, bis sich alle in der Halle klatschend erwärmt haben. Doch auch das Zwischenprogramm aus glorreichem MTV- und Stadionrock-Bombast erreicht die Menschen da unten vor der Bühne. Ganz im Gegensatz zu den etwas ermüdenden Bildschirmorgien der letzten Cooper-in-Strapsen-Videoclips klingen die Songs bilderlos äußerst rauh und herzlich.
Cooper-Musik ist live eine endlose Kette dröhnigem Trashs, eine schmutzige und sympathisch pöbelhafte Version gelackter Elton-John- Balladen; ein anderer Donovan (mit dem er Billion Dollar Babies sang) irgendwie. Die um Alice Cooper herum zusammengeschusterte Sohnemann-Studiomusikertruppe findet sich in den »ollen Kamellen« gut zurecht; in den Instrumentalparts dagegen — wenn der Alte kurz nach hinten verschwindet, um das Kostüm zu wechseln — rutschen die Buben in musterschülerhaftes Lehrbuchgerocke ab.
Filigran und unermüdlich fichtelt der Gitarrist links außen, bis keiner mehr johlen mag, doch zum Glück kehrt der Meister im rechten Moment wieder zurück und läßt das Gequietsche jäh verstummen.
Allen hüftschwingenden Motorradkutten zum Trotz nutzt Alice Cooper weniger die Symbole der Biker, als daß er Blut zelebriert und verspricht. Sinnliche Gewißheit wird verlangt. Spinnen, Nägel, Schlangen, alles beißt und sticht in den Körper. In seinen oder den der anderen — »No one get's as deep inside as I do« —, und blutig tropft der Ständer, an dem ein schwarzer Damenschlüpfer baumelt. Das waren bereits 1977 die Zeichen, die Cooper in seinen Shows der Vorsplatterphase zeigte.
Heute ist es nicht mehr das Getier (die Boa Constrictor wirkt eher als Zitat); es sind Frauen, die nach ihm schnappen, die in Bustiers und allzu knappen Miedern den verirrten Alice in die Hölle locken, wo der Hirte mit dem großen Bohrer wartet, um an besonders unangenehmen Stellen zu bohren. Das sieht man allerdings nur in einem Film, in den der leibhaftige Alice hineinsteigt. Das Medienspektakel dauert eine Viertelstunde.
Ausnahmsweise daddeln die Musikerprofis hier ein wenig verhaltener, um den Augen, die auf leuchtende Totenkopfaugen starren, ihr Comicbild zu geben. Am Ende legt sich übergangslos ein bleierner Schleier aus Lärm auf die Ohren; 99 riesige Luftballons steigen auf zum schmutzigeren Another Brick in the Wall-Vorläufer School's out; große Begeisterung auch im Saal, als der Sänger zu Elected ein Fußballdeutschland-Trikot überstreift und mit einer Schwarz-Rot-Gold-Fahne herumwedelt. So würden sie ihn tatsächlich wählen.
1974 wurde er noch aus einem deutschen Hotel entfernt, als er mit seinen Kumpels nackt in der Empfangshalle ein Spiel mit dem »runden Leder« wagte. Das sieht man ihm heute nach. »I'm with stoopid« steht auf dem tourbegleitenden T-Shirt, daß sich die meisten Zuschauer nach dem Konzertende kaufen, um dann immer noch »vollgekifft« und »angesoffen« die Einsatzbusse vor der Halle zu besteigen. Harald Fricke /
Detlef Kuhlbrodt
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