INTERVIEW: „Europa kann eine ganze Menge Flüchtlinge aufnehmen“
■ Gerd Merkl, 51, CSU-Landtagsabgeordneter und Dissident in der Asylfrage, hält die Beschlüsse der Kanzlerrunde zur Asylproblematik für falsch
taz: Herr Merkl, wie kommen Sie ganz im Gegensatz zu Ihrer Partei zu dem Schluß, daß Deutschland wie alle anderen westeuropäischen Länder ein Einwanderungsland ist?
Merkl: Angesichts der Bevölkerungsentwicklung in den nächsten Jahrzehnten und der Analyse des Deutschen Instituts für Wirtschaft in Köln, wonach derzeit 1,2 Millionen Stellen in den unteren Einkommenskategorien frei sind, werden wir auch auf Dauer einen weiteren Zuzug von Ausländern nicht nur verkraften, sondern auch brauchen. Zudem haben wir in den letzten drei Jahren zwei Millionen Aus- und Übersiedler nicht nur aufgenommen, sondern auch untergebracht. Wenn ich dann die 100.000 Grenzgänger und Saisonarbeiter betrachte, die am Abend wieder zurückmüssen, dann halte ich es nicht für sinnvoll, daß die jeden Tag mit ihren Autos über 100 Kilometer zurücklegen müssen. Warum läßt man die denn nicht gleich hier arbeiten und wohnen?
Gerade in den Unionsparteien wird immer argumentiert, das Boot sei voll. Sie fordern aber ein „Bleiberecht für alle“.
Die These, das Boot sei voll, kann ich nur dann verstehen, wenn man sich ausschließlich darauf konzentriert, was man nach dem jetzigen gesetzlichen Stand mit Asylbewerbern tun muß. Da muß man ein langes Verfahren durchziehen, man braucht Unterkünfte, Verpflegung und Sozialleistungen — alles Punkte, die zu Ärgernissen führen und die beseitigt werden müssen. Die Lösung ist dabei denkbar einfach. Schiebe ich niemanden mehr ab, es sei denn aus strafrechtliche Gründen, dann brauche ich keine Verfahren mehr. Außerdem: Wer soll denn so ein Verfahren noch beanspruchen, sobald er einen freien Zugang zum Arbeitsmarkt bekommt? Meiner Meinung nach hat der Staat die Pflicht, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Diejenigen, die zu Hause arbeiten und wohnen könnten, denen es aber nicht so gut geht wie uns, die sollen zu uns kommen können. Aber der Staat hat denen gegenüber keine Verpflichtung, die sollen Wohnung und Arbeit auf dem freien Markt suchen. Die von der Kanzlerrunde gefällten Beschlüsse zur Asylproblematik werden die Probleme nicht lösen.
Im Gegensatz zu Ihren Parteifreunden halten Sie eine Unterscheidung von politischen Flüchtlingen und sog. Wirtschaftsflüchtlingen nicht für sinnvoll?
Nur den wirklichen Armutsflüchtlingen, die in ihren Ländern verhungern würden, muß ich Hilfe zur Selbsthilfe, also eine längerfristige Perspektive wie zum Beispiel Unterkünfte geben. Aber wer von denen kommt da schon zu uns? Die gehen doch ins Nachbarland, kommen aber nicht mit dem Flugzeug nach Deutschland. Die anderen sollen sich auf den freien Markt begeben. Das Argument, das man mir immer entgegenhält, ist, daß dann zehn Millionen kommen würden. Das ist aber reine Spekulation. Jetzt besteht ja auch schon die Möglichkeit, zu kommen und zu sagen „Asyl“. Warum kommen denn nicht jetzt schon zwei oder drei Millionen? Wenn sie jetzt nicht kommen, wo sie längerfristig Unterkunft und Verpflegung bekommen, warum sollen sie erst kommen, wenn sie selber schauen müssen, wie sie unterkommen? Mein Konzept geht natürlich nur, wenn es europaweit umgesetzt wird. In Europa könnte man insgesamt eine ganze Menge aufnehmen.
In ihrem Papier argumentieren Sie aus einer philosophisch-christlichen Sicht heraus. Wie allein stehen sie damit in der CSU?
Meine Ausarbeitung über 45 Seiten haben bislang sehr wenige zu Gesicht bekommen. Bisher gab es noch keine größere Diskussion, weil man in meiner Partei davon ausgeht, daß außer einer Änderung des Grundgesetzes und schnellen Abschiebungen nichts hilft. Die Meinung innerhalb der CSU ist festgezurrt. Ich halte mein Papier in der Diskussion, dränge mich aber damit nicht nach vorne. Eines Tages wird man es wieder herausziehen.
Geht es bei dem harten Kurs darum, ein Abbröckeln rechts von der Union zu verhindern?
Die letzten Wahlen haben gezeigt, daß man damit nicht viel bewegen kann. Asyl ist eben das Thema Nummer eins, das die Bevölkerung bewegt, und die Politik ist jetzt gefordert.
Haben nicht gerade Ihre Parteifreunde das Thema zur Nummer eins gemacht?
Das Thema ist zum Selbstläufer geworden. Viele Kommunalpolitiker auch von der SPD schimpfen schon lange über die Asylproblematik, das wird dann von der CDU/CSU aufgegriffen. Die Union hat einfach ein größeres Interesse daran, das Problem zu lösen, denn sie ist an der Macht und wird später dafür verantwortlich gemacht. Interview: Bernd Siegler, Nürnberg
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