Berlin als Kulminationspunkt von Absurditäten

■ Ein Interview mit der Ostberliner Autorin Rita Kuczynski

taz: Wie sind Sie als ehemalige Philosophin der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin und Hegelspezialistin zum literarischen Schreiben gekommen?

Kuczynski: Ich bekam den Auftrag, eine populärwissenschaftliche Hegelbiographie zu schreiben. Nach etwa vierzig Seiten wurde mir klar, daß das nichts Populärwissenschaftliches im landesüblichen Sinne wird, sondern etwas Literarisches. Ich habe das Buch trotzdem weitergeschrieben und dabei gemerkt, daß mir diese Art, Philosophie aus einer essayistisch-literarischen Sichtweise zu betreiben, viel mehr Spaß machte als die trockenen philosophischen Darstellungen. Ich beschloß, künftig eine literarische Ausdrucksweise zu wählen, die meinem Temperament mehr entspricht.

Im letzten Jahr erschien die Erzählung Wenn ich kein Vogel wär, eine Nachkriegsgeschichte zwischen Ost- und West-Berlin aus der Sicht eines zwölfjährigen Mädchens. Was hat Sie an dieser Perspektive interessiert?

Zunächst war da eine ganz praktische Überlegung: Wie kann man einen historischen Stoff transportieren, ohne daß er langweilig wird, und dann kam auch noch die Tatsache der DDR-Zensur hinzu. Indem ich ein elf- oder zwölfjähriges Mädchen die Geschichte erzählen ließ, konnte ich sehr viel mehr transportieren als mit einem objektiven Erzähler, wie man mir von seiten der Verlage angeraten hatte.

Ihr Roman hat komische, aber auch grausame Aspekte, und wird als »Antierziehungsroman« bezeichnet: der aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft heimkehrende Vater schlägt seine Töchter und wird Alkoholiker, die Mutter, die sich zunehmend für den Aufbau des Sozialismus engagiert, gibt die Kinder weg zu den Omas, im Westen und Osten. Alles andere als das Idealbild sozialistischer Familie und Erziehung.

Unter sozialistischer Erziehung habe ich mir nie etwas Konkretes vorstellen können, weil dieser Terminus für mich völlig ahistorisch ist. Die Kinder wachsen in den fünfziger Jahren unter Bedingungen von Eltern auf, die mindestens einen Krieg durchgemacht haben. Einen Krieg durchzumachen heißt, mehr als eine Generation lang in den Gefühlen zu verwahrlosen. So gesehen ist der Terminus »sozialistische Erziehung« für mich immer ein Propagandaterminus gewesen; ein Vater, der in Stalingrad war, eine Mutter, die mit zwei oder drei Kindern durch den Krieg gegangen ist, haben dafür wenig Voraussetzungen. Zudem weiß ich nicht, was sozialistische Erziehung sein soll, ich würde immer mehr dazu neigen, zu sagen, man soll seine Kinder humanistisch erziehen... Hinzu kommt, daß die Realität im Berlin der 50er Jahre so aussah, daß sich da ganz spontan Literatur ansiedeln ließ. Der historische und geographische Boden Ost-West- Berlin gibt so viel an Stoff her, daß man mehr als einen Roman darüber schreiben könnte. Ich empfand Berlin als den Kulminationspunkt von welthistorischen Absurditäten. Kinder, die innerhalb einer Stadt, innerhalb eines S-Bahn-Rings viermal durch den Osten und viermal durch den Westen fahren und dabei ständig hören, hier endet der amerikanische Sektor, hier endet der sowjetische Sektor, können sich ja nur eigenständig verhalten und von den politischen Absurditäten abschalten, wenn sie nicht irrsinnig werden wollen.

Diese Absurdität wird deutlich in den beiden Motiven, die Sie miteinander verknüpfen, das Sterbenwollen oder die Weltflucht einerseits und die Erlösung durch die Musik andererseits.

Ich habe die Musik mit Absicht gewählt, weil ich glaubte, daß eine künstlerische und auch reale Lösung für das Problem Ost-West und für ein Kind, das täglich die Radiosender und die Kleidung wechselt, gefunden werden mußte, damit es daran nicht irre wird. Ich wollte eine eigene Ebene schaffen, auf der die beiden Welten wieder zusammengebracht werden können. Das war für mich die Musik, mit der diese Zwölfjährige die schizophrenen Elemente aus beiden Teilen der Stadt für sich synthetisiert. In der Musik kann sie eine eigene Person sein, über die historischen Zeiten hinaus eine eigene Ausdrucksweise finden.

Würden Sie das Buch heute anders schreiben?

An meinen Buch hat die Wende nichts geändert. Ich bin 1961 erst richtig in die DDR gekommen, und da nicht freiwillig geblieben. Im Laufe der Jahre habe ich mich natürlich angeglichen. Wenn ich das nicht gemacht hätte, wäre ich verrückt geworden. Man kann nicht 28 Jahre in einem Land leben, ohne sich in gewisser Weise anzupassen, was nicht heißt, daß ich die DDR als die schönste aller Republiken empfand. Als dann die sogenannte Wende einsetzte, war ich zunächst natürlich wieder mal irritiert, weil ich mal eine Westdeutsche war, dann eine Ostdeutsche wurde und jetzt wieder eine Westdeutsche, das sind schon ziemliche Einschnitte im Leben.

Werden Sie diese jüngste Erfahrung literarisch verarbeiten?

Ich bin mal so vermessen zu sagen, daß ich einen historischen Roman schreiben werde. Er wird, soweit ich das überblicken kann, 1917 anfangen und mit dem Niedergang des sozialistischen Weltsystems 1990 hoffentlich enden. Ich werde darin die Geschichte eines jüdischen Mädchens beschreiben, deren Eltern 1933 in die Sowjetunion emigrierten, dort ins Lager kamen, vom Lager dann wieder zurück in die DDR und dort als bewußte Kommunisten die DDR mitaufgebaut haben. Ich werde versuchen zu erzählen, wie das Mädchen an dem Konflikt zwischen Illusion und Wirklichkeit zerbricht, weil sie die Wirklichkeit nicht akzeptieren kann. Eines der größten Probleme der sozialistischen Ideologie war, daß sie eine fiktive Wirklichkeit erzeugte, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hatte. Wenn ich als Kind von sozialistischen Eltern daraufhin erst mal erzogen wurde und dann mit der Realität in Berührung komme, erlebe ich doch ständig Frustration und muß Rechtfertigungsgründe dafür finden, warum, was ist, nicht so ist, wie die Eltern gesagt haben und wie es die offizielle Ideologie sagt. An diesem Konflikt kann eigentlich jeder vernünftig denkende Mensch zerbrechen; ich lasse an diesem Konflikt die Heldin meines Buches zerbrechen, die sich dann letztlich auf ihre jüdische Herkunft besinnt und die DDR zum Schrecken ihrer Eltern verläßt. Interview: Michaela Ott