: Drückeberger oder vergessene NS-Opfer?
Symposium über Deserteure des Zweiten Weltkrieges/ Militärjustiz verhängte rund 50.000 Todesurteile/ Die Rolle der Wehrmacht wird in der militärhistorischen Forschung langsam revidiert/ Bundessozialgericht verurteilt frühere Militärjustiz ■ Von Froben Homburger
Marburg (ap) — Als „verachtenswerte Drückeberger und grenzenlose Egoisten“ wurden sie kürzlich von mehreren Bundeswehrgenerälen in einem Handbuch für Offiziere bezeichnet. „Vergessene Opfer der NS-Militärjustiz“ nennen sie sich selbst: Deserteuren des Zweiten Weltkriegs ist bislang gesellschaftliche Anerkennung und materielle Entschädigung versagt geblieben. Zu einem Symposium über „Verfolgte der Militärstrafjustiz und der Militärpsychiatrie im Zweiten Weltkrieg“ trafen sich am Wochenende in Marburg Fahnenflüchtige der deutschen Wehrmacht, Juristen und Militärhistoriker.
Rund 50.000 Todesurteile wurden neuen Forschungsergebnissen zufolge im Dritten Reich gegen die sogenannten Vaterlandsverräter verhängt. Einer der wenigen Fahnenflüchtigen, die die Verfolgung überlebten, ist der 70jährige Horst Schluckner. „Wer sich der Metzelei entzog, hat sich auf die Seite des Menschenrechts gestellt“, betont er. 1941, bei seinem ersten Einsatz in Ostpreußen, wurde er wegen „Gefangenenbegünstigung“ festgenommen, da er einem russischen Kriegsgefangenen ein Stück Brot zugeworfen hatte. Schluckner entzog sich der drohenden Strafe mit der Flucht.
Die Zahl der Deserteure der deutschen Wehrmacht wird auf mehrere hunderttausend geschätzt, genau konnte sie nie ermittelt werden. Nach Ansicht von Militärhistorikern verleugnen viele der Überlebenden ihre Fahnenflucht, da sie sich auch heute noch dem Vorwurf der Feigheit und Untreue ausgesetzt sehen. In dem Offiziershandbuch der Bundeswehr heißt es etwa, im Dritten Reich hätten die Deserteure „den Tod ihrer Kameraden verursacht“ und seien deshalb zu Schurken geworden. Hinter diesem Bild vom feigen Fahnenflüchtigen steckt nach den Erkenntnissen des früheren Leiters des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes der Bundeswehr, Manfred Messerschmidt, oft die „Legende von der Wehrmacht als ehrbare Institution“.
Tatsächlich sei die Wehrmacht jedoch keinesfalls ein gewöhnliches Heer gewesen, sondern eine nationalsozialistische Armee, die sich selbst als tragende Säule des deutschen Faschismus verstanden habe. Nach Angaben des Wiener Politologen Walter Manoschek war die Wehrmacht an der Judenvernichtung aktiv beteiligt und ermordete unter dem Deckmantel der Partisanenbekämpfung Menschen, die von den Nazis als lebensunwert eingestuft worden waren. Den Deserteuren gebühre daher größter Respekt, meint Manoschek.
Respekt haben die sogenannten Wehrkraftzersetzer nach eigenen Angaben jedoch kaum erfahren, im Gegenteil: Er habe sehr lange nur Verachtung zu spüren bekommen, berichtet der 68jährige Peter Schilling. Mit anderen Deserteuren schloß sich Schilling vor einem Jahr in der Bundesvereinigung „Opfer der NS-Militärjustiz“ zusammen, um eine finanzielle Entschädigung für die Verfolgung durch die Nationalsozialsten einzufordern. „Erbärmlich“ findet er es, daß die „vergessenen NS-Opfer“ nicht zumindest die gleiche Rente erhalten wie viele der NS-Täter.
Von einer skandalösen Rechtsprechung spricht in diesem Zusammenhang auch der Jurist und Entschädigungsexperte Franz Dillmann. Er fordert, die Verfolgung der Deserteure als NS-typisches Unrecht anzuerkennen. Als ersten Erfolg wertet Dillmann das Urteil des Bundesozialgerichts vom 11. September, in dem die Militärjustiz als verlängerter Arm des Hitler-Regimes und der größte Teil der Todesurteile als Unrechtsurteile bezeichnet wurden. Für Peter Schilling ist diese Art der verspäteten Rehabilitierung jedoch nur ein schwacher Trost. „Wir sind eben Dinosaurier, die jetzt noch einmal brüllen dürfen, bevor sie im Schlamm der Geschichte versinken.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen