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Goethe stört!

Castorf und „Torquato Tasso“ in München  ■ Von Doja Hacker

Die Geschwindigkeit, mit der Frank Castorf einen Klassiker nach dem anderen über die gesamtdeutschen bis Schweizer Bühnen jagt, ist für seinen Fanklub eine Wonne. Alle drei Monate wird neuer Stoff geboten. Daß die Devise „schneller inszenieren“ sich auch als Leerlauf niederschlagen kann, zeigt Castorfs Torquato Tasso am Münchner Residenztheater. Bisher blieben die Stücke am Horizont der Inszenierung mehr oder weniger deutlich sichtbar. Sie wurden auseinandergenommen und neu zusammengesetzt, drastisch gekürzt und mit Prosatexten ergänzt, deren dramaturgische Funktion für das jeweilige Stück man nicht unbedingt begreifen mußte, um sie genießen zu können. Es gab jeweils genügend Material und gute Gründe für die Behauptung, in dem aberwitzigen Geschehen auf der Bühne habe es sich um Lessings Sara Sampson, SchillersRäuber und Ibsens John Gabriel Borkman gehandelt.

Beim Torquato Tasso ist das Stück im Laufe seiner Inszenierung ziemlich vollständig abhanden gekommen, obwohl sogar erstaunlich viel Gesprochenes aus Goethes Schauspiel stammt. Aber dessen Verse und Castorfs Slapstick-Theater finden diesmal in keinen Rhythmus. Sie wirken wie ein Tanzpaar, das sich immerzu gegenseitig auf die Füße tritt.

Castorf absolviert den Text wie ein Pflichtprogramm, das ihm eigentlich lästig ist, und Goethe rächt sich, indem er seine Dichtung vor dem Publikum abschirmt. Seine Verse sind zu dunkel und rätselhaft, als daß sie sich im reinen Dahinsagen aufhellen könnten, und der Zwiespalt zwischen wahrem und falschem Sprechen ist bei Goethe zu kompliziert gebaut, als daß man ihn auch dann bemerken würde, wenn der Schauspieler ihn am Bühnenrand wegredet.

Castorf übersetzt die Verstellungen der höfischen Sprache in einen Manierismus der Bilder und Gesten. Er macht die Qual des Sprechens zum Thema und gibt dabei zwangsläufig das, was gesprochen wird, preis. Daß es sich dabei um Notlösungen handelt, ist nicht zu übersehen.

Einfälle, die früher mit der Kürze eines Aphorismus abgehandelt wurden, werden im Tasso zu langen Sequenzen und sind irgendwann nicht viel mehr als eine Selbstdarstellung des Regisseurs. Wenn Silvia Rieger und Gabriele Köstler in der ersten Szene einen Betonbrocken so lange mit dem Vorschlaghammer bearbeiten, bis er bricht, dann meint diese erschöpfende Ausführlichkeit schließlich bloß noch den Insider-Witz um den „Stücke-Zertrümmerer“ Castorf. Was die Feuilletons über Castorf verbreiten, parodieren die Schauspielerinnen auf der Bühne. Wer es nicht weiß, den macht es nicht heiß.

Castorfs Hang zum Selbstzitat und Goethes Schauspiel laufen unverbunden nebeneinander her — und meistens voneinander weg. Deshalb nimmt man die Ausbrüche aus dem Stück ohne große Überraschung zur Kenntnis. Daß ein Schauspieler aus der Rolle tritt, fällt erst dann auf, wenn er diese Rolle vorher auch gespielt hat. Aber so weit läßt es Castorf diesmal gar nicht erst kommen.

Der Konflikt zwischen Tasso und seinem Kontrahenten Antonio, die Konkurrenz der beiden Leonores um den Dichter sind ein Zustand, der keinerlei Steigerung erfährt und deshalb auch keiner Entwicklung bedarf. Und welche Zuspitzung soll das ambivalente Verhältnis des Staatssekretärs zum Dichter Tasso noch erfahren, wenn Antonio schon bei der ersten Begegnung Tasso als „elendes Miststück und Speichellecker“ beschimpft?

Castorf unterschätzt die assoziativen Möglichkeiten des Publikums. Er glaubt, er müsse alles erklären. Wenn seine Leonore von Este aus Versehen „wegvögeln“ sagt, bleibt das nicht als Freudscher Versprecher im Raum, sondern wird von der Schauspielerin selbst ausführlich analysiert.

Der Verfolgungswahn des Tasso ist hier nur einer unter vielen Defekten. Er fällt nicht weiter auf. Die „Turm“-Gesellschaft in ihrem Lustschloß hat sowieso jede Kontrolle über sich verloren: Der Herzog von Ferrara (Karlheinz Vietsch) grient nach seinem Dichter wie ein Kind, das sein Spielzeug weggeschmissen hat, Leonore von Este verschlägt ein Stotteranfall nach langer Qual schließlich ganz die Sprache, und Castorfs Star Silvia Rieger fällt zu beinahe jedem Stichwort eine Opernarie ein, mit der sie den Leidensdruck der übrigen Insassen noch verschlimmern kann.

Die Krankheit der Gesellschaft heißt Autismus. Die Figuren oder ihre Darsteller sind nicht empfänglich für das, was der Nächste tut, und deshalb haben ihre Handlungen auf das Große und Ganze auch keine Auswirkungen. Wer keine Lust hat weiterzuspielen, verläßt die Bühne und redet von was anderem. Wenn den Darstellern oder ihrem Spielleiter nichts Besseres einfällt, greifen sie zur eisernen Reserve und halten sich an Goethe. Daß kein Mensch im Parkett dessen Verse hören will, scheint ausgemachte Sache zu sein. Das Publikum erfüllt dann auch, was Castorf ihm unterstellt. Es jauchzt, wenn die Schauspieler ins Wasser fallen und nicht mehr rauskommen; es freut sich über einen Tasso (Peter Kremer), der wie der Frischling über die Bühne hüpft; es kichert verwegen, wenn die Damen ihre Röcke heben und freie Einsicht gewähren. Es will sein „Spiel ohne Grenzen“ und immer noch eins drauf. Castorfs Theater bedient alles: Sex and Crime and Rock'n' Roll. Letzterer stammt diesmal von Jimi Hendrix und Ton, Steine, Scherben.

Der Bühnenbildner Hartmut Meyer sorgt für die edle Verpackung. Sein Raum ist eine Fortsetzung des auf postmodernen Hochglanz renovierten Residenztheaters mit den Mitteln des russischen Formalismus: schwer zu bespielen, aber herrlich bemalt. Noch schöner wäre diese Bühne ganz ohne Schauspieler. Ungefähr so verhält es sich auch mit der Inszenierung: Ganz ohne Goethe hätte dieser Tasso vielleicht doch aufregendes Theater werden können.

Torquato Tasso. Von und nach Goethe. Regie: Frank Castorf. Bühne: Hartmut Meyer. Mit Silvia Rieger, Gabriele Köstler, Peter Kremer. Residenztheater München. Nächste Aufführungen: 31.10., 6., 10. und 13.11.

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