Jetzt gehen wir mal Sartre lesen

■ Ein Gespräch mit dem Dramatiker Lothar Trolle

taz: Herr Trolle, Sie schreiben seit über zwanzig Jahren Theaterstücke und sind dabei in der DDR ein selten gespielter Autor geblieben. Gab es politische Gründe dafür?

Lothar Trolle: Das weiß ich nicht. Vielleicht waren die Formen, die ich damals erprobte, hier nicht so erprobt. Das Clowneske, das kommt doch viel mehr aus dem Italienischen, aus dem Französischen. Ich glaube, das Formale war sehr schwierig, ungewohnt.

Lag es nicht doch an der Wahl Ihrer Stoffe, die sie auf diese Art behandelten?

Zum Beispiel Greikemeier, mein ,Hauptwerk‘, das Stück über den 17. Juni — das Thema war tabu. Es gibt noch andere Stücke, die man aus politischen Gründen nicht gespielt hat. Zum Beispiel habe ich einmal ein Kasperlstück auf Ulbricht und Honecker geschrieben. Das ging nicht, das wußte man auch. Aber das klärt nichts mehr für mich.

Aber in Ihrem jüngsten Stück, Ein Vormittag in der Freiheit , beschäftigen Sie sich mit einen arbeitslosen Funktionär. Was interessiert Sie jetzt an dieser Figur?

Lehmann ist ein Funktionär, der das Theater für sich entdeckt. Er wollte mal Schauspieler werden. Das war für mich der Anreiz, auch beim Schreiben. Daß er eine Möglichkeit von Spiel, von Lüge erkennt.

Übt Lehmann „Selbstkritik“?

Was heißt denn eigentlich „Selbstkritik“? Das gibt es doch gar nicht. Man kann es als Nummer abziehen, aber es würde nichts ändern. Für mich ist das ein Begriff aus der Uni-Zeit. Ich habe mal ML studiert, also Marxismus-Leninismus. Eigentlich wollte ich ja nur Philosophie studieren. Ich ging dahin und dachte: Nietzsche, Sartre... Wir waren etwa sieben Studenten, die nicht in der Partei waren. Die anderen brauchten uns natürlich als Klassenfeinde. Einmal im Monat mußten wir zur „Aussprache“. Da saß ich einmal vor einer Kommission und mußte ein Referat über Schillers ästhetische Schriften halten. Plötzlich wurde mir dann gesagt: „Also das ist typisch. Du redest schon seit zehn Minuten über Kunst und hast noch nichts gesagt über die führende Rolle der Partei.“ In diesen ganzen Gesprächen wurden wir immer als „Schlaumeier“ bezeichnet, und es gab ja auch eine extra Liste für solche Schlaumeier. Jetzt hab' ich selber erlebt, daß wir eigentlich recht hatten: Der Mensch ist wirklich frei. Die Funktionäre erleben jetzt den Existentialismus. Sie merken: Ich kann machen, was ich will, ich bin immer noch frei. Das war auch ein bißchen meine Freude daran, den Funktionären zu sagen, jetzt gehen wir mal Sartre lesen.

Sie schicken die arbeitslosen Funktionäre in die Friedrichstraße, um dort Würstchen oder Döner zu verkaufen. Amüsiert Sie das Schicksal Ihrer ehemaligen Feinde?

Das finde ich sehr komisch. Sehr komisch. Ich finde es auch wirklich nicht entwürdigend, so etwas zu machen. Die werden vermutlich dabei steinreich. Das meine ich ernst. Das dauert fünf Jahre, dann lachen sie über uns.

Über wen?

Über die alte taz. Die alten arbeitslosen taz-Leute. Ich glaube, das ist zu erwarten.

Tausende von ehemaligen Funktionären als Würstchenverkäufer... Dahinter steht doch auch der Zusammenbruch einer ganzen Gesellschaft. Ist das für Sie eine Komödie oder nur als Komödie auf dem Theater darstellbar?

Also ,nur‘ weiß ich nicht. Ich hoffe, daß das auch etwas tragisch wirkt. Komik ohne Tragik ist ja flach. Es gibt bestimmte Punkte, wo man sich das Leben eben nicht nimmt. Der Anlaß des Stückes war eigentlich ein entfernter Verwandter von mir. Ein leibhaftiger Onkel, der in Buchenwald war und dann, nach 1945, Funktionär. In den sechziger Jahren wurde er verrückt. Er fing an, aus dem Fenster zu brüllen. Er hatte noch erlebt, daß das nicht klappte mit der Wirklichkeit. Er fluchte auf die Bevölkerung. Eine Publikumsbeschimpfung der DDR... Eigentlich hat er das ausgelebt, was die Führungsschicht nicht ausgelebt hat. Das Scheitern der sozialistischen Ideale an der gesellschaftlichen Wirklichkeit?

Ja. Über ihn wollte ich schon lange ein Stück schreiben. Das ist mir nie gelungen. Schließlich beschäftigte ich mich mit den Leuten, von denen ich unter anderem schikaniert wurde. Das sind doch diese Leute gewesen. Ich fragte mich: Was machen die jetzt? Nicht einfach aus Häme. Ich finde einfach, daß man, wie Foucault sagt, diesen Leuten, den Wahnsinnigen, ein Podium bieten sollte. Das sind nicht nur die alten Seilschaften. Da wird auch etwas anderes ans Tageslicht gezerrt.

Lehmanns Wahnsinn produziert gleichzeitig eine neue Form des Monologes. Suchen Sie nach neuen Formen für das Theater?

Ein neues Sujet muß auch anregend sein für eine neue Form. Beim Schreiben frage ich mich nicht, welche neue Form entwickle ich jetzt, sondern ich gehe aus vom Sujet. Das bestimmt auch die neuen Gesetze.

Können Sie Einflüsse auf Ihre Arbeit benennen?

Es gibt ein paar Leseerlebnisse. Charms war eins, oder Vitezskav Nezval. Ich war immer sehr beeindruckt von den tschechischen Surrealisten der zwanziger Jahre. Das war eigentlich außerhalb von Frankreich die entscheidende Variation des französischen Surrealismus. Sie haben auch formal wirklich sehr neue Dinge entwickelt. Das sind Möglichkeiten des Theaters, die man bestimmt wieder nutzen kann.

Ihre Formexperimente bzw. deren Auswirkung auf die Menschenzeichnung widersprachen offensichtlich dem Bild der schaffensfrohen Persönlichkeit im sozialistischen Aufbau. Das Kind beispielsweise, das sich die Zootiere herbeiphantasiert, um über die Menschen in den betonierten Wohnsilos herzufallen, wird einfach als Stück über einen Jungen interpretiert, „der wenig mit sich anzufangen weiß“. 'Theater der Zeit‘ klassifizierte Sie als Autor, „der sich für uns an bereits Gewesenem und Bewältigtem abarbeitet“.

Welcher Wahnwitzige hat das geschrieben? Einer, der jetzt in seinem Apartment sitzt und Gymnastikübungen macht? Und „Schnatter, Schnatter“ übt. Das ist wirklich sein Pech. Man kann ihm nur verzeihen, so darüber geschrieben zu haben. „Schnatter, Schnatter!“

Wollen Sie doch etwas mit Ihren Figuren beweisen?

Was denn? Die Figuren müssen allein spielen, bis sie ihren Schluß gefunden haben. Jede Dramatik ist eine innere Dramatik. Keine andere.

In Ihren Stücken fällt eine Entwicklung vom Dialogischen zum Monologischen auf. Die Figuren vereinsamen. Entspricht diese Erfahrung des Eingeschlossenseins der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR?

In den letzten Jahren ja. Was mich seit einigen Jahren wirklich interessiert, ist diese Form der Einsamkeit. Ich beschäftige mich mit den verschiedenen Variationen davon. Ich versuche Vorschläge zu entwickeln.

Schon in Ihren frühen Stücken vereinen Sie die Brechtsche Form des Lehrstücks mit Beckettschem Inhalt. Glauben Sie, daß theaterpädagogische Modelle grundsätzlich versagen?

Das glaube ich durchaus. Das einzige, was nicht versagt, ist Nachdenken. Wenn der Autor Lösungen vorgibt, was soll man da noch nachdenken? Dann brauche ich keine Theater. Ein Stück ist nichts weiter als Benennung meiner Grenzen. Je weniger man vorschreibt, um so freier können sie sich verhalten. Ich meine auch die Schauspieler, die Produzenten.

Das entspräche aber durchaus dem erweiterten Lehrstückbegriff Brechts.

Der erweiterte Lehrstückbegriff, genau. Der eingeengte. Der verengte.

In der Kasperltrilogie ist der Horizont schon sehr viel enger. Kasper spricht eine Rolle auf ein Tonband und unterhält sich dann mit seiner eigenen Stimme. Er begibt sich damit in eine Wiederholungsschleife.

Eine andere Möglichkeit hat er gar nicht. Es geht ja auch immer darum, inwieweit man in einem Stück etwas über sich erkennen kann. Wohin das führen kann, weiß