: SPD sucht neuen Fraktionschef
Nach dem Rücktritt von Hans-Jochen Vogel begionnt die Suche nach dem geeigneten Kandidaten für dessen Nachfolge/ Im Gespräch sind Herta Däubler-Gmelin und der Sozialexperte Rudolf Dreßler ■ Aus Bonn Christiane Bruhns
Hans Jochen Vogel tritt nicht wieder an. Anfang Dezember, wenn die SPD-Fraktion tournusgemäß ihren neuen Bundesvorsitzenden wählt, beendet Vogel seine fast neunjährige Zeit an der Spitze der Fraktion. Der Rückzug kam überraschend: ein halbes Jahr nach dem mühseligen Übergang vom Parteivorsitzenden Vogel zum Nachfolger Björn Engholm zieht sich Hans-Jochen Vogel viel früher als erwartet aus seinem letzen Spitzenamt zurück.
Der Fraktion sei schon länger bekannt, daß er nicht mehr bis zur nächsten Wahl 1994 zur Verfügung stünde, so der Noch-Fraktionsvorsitzende. Vogel, der nach eigenen Bekunden „ohne eine Spur von Bitterkeit“ geht, legte vor der Presse Wert auf die Normalität des Vorgangs. Es spräche alles dafür, den Generationswechsel auch an der Spitze der Fraktion zu vollziehen. Wer aber künftig die Rolle des Oppositionsführers spielen, den Gegenpart zum künftigen Unionsfraktionschef Schäuble übernehmen soll, dazu schwieg Vogel — nicht nur aus Gründen der gewohnten Disziplin.
Denn der Rücktritt, über den ganz gegen sonstige Bonner Sitten vorab nichts durchsickerte, kam auch für Fraktion und Parteivorstand der Sozialdemokraten unerwartet und ist personell nicht vorbereitet. Und je zugeknöpfter das SPD-Führungspersonal sich gibt, wer in die Fußstapfen von Vogel und Wehner treten soll, desto üppiger gedeihen die Gerüchte. Ingrid Matthäus-Meier, Wolfgang Thierse, Rudolf Dreßler, Herta Däubler-Gmelin...wer soll es werden?
Während die SPD-Gremien eine geordnete Kandidatensuche im November angekündigt haben, und die Fraktion eine Fünfer-Kommission mit Vogel an der Spitze gebildet hat, läßt sich mit Sicherheit nur sagen, daß die Nachfolgefrage offen ist und kein(e) KandidatIn sich aufdrängt. Hans-Jochen Vogel ließ immerhin melden, er schließe „eine Frau nicht aus“.
Ingrid Matthäus-Meier, seit 1988 in der Fraktionsführung und kompetente Streiterin gegen Waigel, fehlt immer noch eine wichtige Voraussetzung: der Übergängerin von der FDP fehlt das ur-sozialdemokratische. Wolfgang Thierse, Vogel- Stellvertreter aus der Ost-SPD, will das Amt nicht. Chancen können sich Rudolf Dreßler und Herta Däubler- Gmelin ausrechnen und mit diesen beiden Namen ist auch das politische Spektrum der anstehenden Entscheidung umrissen.
Rudolf Dreßler, Jahrgang 1940, gelernter Schriftsetzer und seit 1984 Vorsitzender der SPD-Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen, verkörpert die klassische SPD-Tradition. Er kommt aus Nordrhein- Westfalen, verfügt über Einfluß in diesem Landesverband und unter den Rechten der Fraktion.
Als Sozialpolitiker markiger Gegner von Blüm, bei entsprechenden Themen (Stichwort: Rentenkompromiß) auch zur großen Koalition in der Sache bereit, ist er mit Lafontaines Positionen zur sozialen Frage oft genug zusammengestoßen. Für „Generationswechsel“ mag der gut Fünfzigjährige stehen, für politische Erneuerung kaum.
Herta Däubler-Gmelin kommt aus dem anderen Parteiflügel, bestand als Juristin, Rechts- und Innenpolitikerin auch im Konfliktfall auf klarer Rechtsstaatlichkeit und stieg auf dem SPD-Parteitag 1988 als erste Frau zur stellvertretenden Parteivorsitzenden auf. Ihr politischer Stil, ihre Ausstrahlung erinnern an Vogel.
Vogel selbst, der im Frühjahr dieses Jahres noch über weitrechende Entscheidungen wie den künftigen Kanzlerkandidaten mitsprechen wollte, geht ohne seine Nachfolge zu betsimmen.
Aus der Baracke ließ SPD Geschäftsführer Blessind verlauten, das weitere Verfahren liege nun in der Hand der Fraktion, in Abstimmung mit der Partei. Für die „gründliche, ruhige Meinungsbildung“, die Blessing milde anfordert, hat Vogels Entschlußfreude wenig Raum gelassen.
Vogels bleibt in der Fraktion
Aufs Altenteil will sich Vogel nicht zurückziehen. Er selbst steht an der Spitze der fünfköpfigen „Findungskommission“ - weitere Mitglieder: die Bundestagsvizepräsidenten Renate Schmidt und Helmuth Becker sowie die Fraktionsgeschäfsführer Uwe Küster und Peter Struck -, die in den nächsten Tagen die Entscheidung vorbereiten soll.
Der Rückzug auf Raten soll ordentlich über die Bühne gebracht werden. Vogel will eine Debatte wie nach dem Wahldebakel im Dezember verhindern. Damals hatte er dem gescheiterten Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine nacheinander den Partei- und Fraktionsvorsitz angeboten und sich jedesmal eine Abfuhr geholt.
Doch nach über 30 Jahren in der Politik läßt sich Vogel von solchen Gefühlen in der Öffentlichkeit auch beim Abschied nichts mehr anmerken. „Es ist nicht eine Spur von Bitterkeit. Ich habe meine Arbeit gern getan und werde sie so wie gewohnt bis zu letzten Stunde fortführen.“
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