: Normierte Seelen
■ betr.: "Entgrenzung macht Angst", taz vom 28.10.91
betr.: „Entgrenzung macht Angst“, taz vom 28.10.91
Wann richten wir endlich den Blick auf uns, anstatt auf andere!
Jede Persönlichkeitsentwicklung ist durch Normen beeinflußt, die durch die Erwachsenenwelt auf die Kinder übergeht. Je mehr die Normen gegen die eigenen Gefühle gerichtet sind, desto aggressiver ist das Aufbegehren dagegen. Durch die Setzung von Normen wird das Kind in seiner freiheitlichen Entwicklung behindert. Die einschneidendste Normierung passiert auf dem Gebiet des Umgehens mit den Gefühlen der Kinder. Gefühl wird gegen Verstand gesetzt.
Kinder lernen von uns Gefühle vom Verstand her zu unterdrücken. Wir zeigen ihnen unsere unnatürliche Trennung von Verstand und Gefühl. Dabei entstehen Gedanken aus Gefühlen. Es ist die Unterdrückung von Gefühlen in der Menschenentwicklung, die den Menschen zu einer Bestie machen können. Man kann diese unterdrückten Gefühle auch mit vielem kompensieren, mit Alkohol, Drogen, mit Beziehung anstatt Liebe, Frustkäufen usw. Irgendwann im Leben holen den Menschen diese unterdrückten Gefühle wieder ein, und weil er/sie nicht gelernt hat, Gefühle durch Beharren in ihnen, Gedanken im Verstand sich entwickeln zu lassen, bricht die Beziehung, er/sie wird Alkoholker/in...
Wir kennen die Brücke im Leben zur Genüge. Mein Vater war ganz rechts, ich war ganz links, und mein Sohn drohte wieder ganz rechts zu werden — wegen starker Normensetzung von rechts oder von links. „Sei nicht traurig, Junge, wir haben es früher noch schlechter gehabt“ und dergleichen Sprüche haben uns die Trauerfähigkeit genommen. In der menschlichen Psyche ist das aber genau die Fähigkeit, durch die der Mensch seinen Werteaufbau betreibt und die anderer Menschen erkennen lernt. Leid zu teilen, um es besser verarbeitbar zu machen, also nachzuempfinden, ist uns fremd. So sind viele auf sich alleine gestellt und schlechter in der Lage, das Leidensgefühl in Werte sich verwandeln zu lassen. Wir tragen Mitschuld an der unbewältigten Vergangenheit und Gegenwart, indem wir sie wegen ihrer Handlungen verurteilt haben und verurteilen, anstatt zuzuhören, sich in ihre Lage zu versetzen und durch Mitleid den notwendigen Trauerprozeß einzuleiten, der zu einer anderen „deutschen Seele“ als der heutigen geführt hätte.
Wir folgen dem gleichen Mechanismus. Wir erkennen in der Ausländerfeindlichkeit nicht die Minderwertigkeitsgefühle der Menschen. Zeigen wir durch Nachempfinden der Minderwertigkeitsgefühle, daß wir den Teufelskreis der Gefühllosigkeit unserer Gesellschaft durchbrechen wollen. Wir sollten bei uns selbst anfangen, im alltäglichen Leben. Wer selbst nicht in der Lage ist, seine Empfindungen sich in Gedanken verwandeln zu lassen, wird schwer zu einer Erneuerung (Reinigung) der Gesellschaft beitragen können, sondern den Prozeß der Spaltung und Ausgrenzung vergrößern helfen und vielleicht am Ende auf eine einsame Insel wollen.
Wie ein See sich durch die natürliche Strömung von der Oberfläche in die Tiefe und zurück reinigt, reinigt der Mensch seine Psyche durch Belassen in Empfindungen, die ihn in den Grund seiner selbst führt. Edmund Dinger, Bremen
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