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Freiheit bis zum Tod

■ Bei Terrortoten diskutiert der Bundestag neue Gesetze, Verkehrstote sind noch nicht einmal einer enrsthaften Diskussion wert. Ebenso provokant wie wahr erläutert Hermann Lutz, Vorsitzender der Gewerkschaft Polizei...

Bei Terrortoten diskutiert der Bundestag

neue Gesetze, Verkehrstote sind noch nicht einmal einer ernsthaften Diskussion wert.

Ebenso provokant wie wahr erläutert HERMANN LUTZ,

Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei, seine Vorstellungen über Tempolimit, Verkehrstote und die Bonner Verkehrspolitik.

Mit ihm sprach HERMANN-JOSEF TENHAGEN

taz: Bundesminister Günther Krause hat erklärt, daß der Verkehr in den kommenden Jahren der Wachstumsmarkt überhaupt sein wird.

Hermann Lutz: Die Erklärung von Herrn Krause kann ich inhaltlich voll nachvollziehen. Ganz schlimm finde ich an dieser Entwicklung, daß es nicht gelingt, in den Ballungsräumen attraktive Angebote des öffentlichen Nahverkehrs an Stelle des Individualverkehrs zu machen und daß der Güterverkehr auf der Straße vor allem nach der größeren Freizügigkeit im Gemeinsamen Markt 1993 den Verkehrsinfarkt fast vorprogrammiert. An den Nadelöhren in Deutschland, wie der Elbtunnel oder der Münchener Ring, werden wir Belastungen haben, die weit über 20.000 LKWs am Tag hinausreichen.

So kann es wohl nicht bleiben?

Wir müssen nicht nur die Stadtzentren, sondern auch den Nahbereich der Ballungszentren durch koordinierte Verkehrssysteme attraktiv gestalten. Dies könnte unter Umständen auch im Sinne des Sozialstaatsgebots mit öffentlichen Mitteln mehr als bisher subventioniert werden. Es muß nicht nur eine Bewußtseinsänderung, sondern auch ein attraktives Angebot her.

Vor einigen Wochen hat der Bundesrat einen Vorstoß der niedersächsischen Landesregierung für ein Tempolimit abgelehnt. Wie sehen Sie die weitere Entwicklung?

Wir wollen im November ein komplettes Programm zur Entlastung der Menschen im Verkehr vorstellen. Zum Tempolimit: ich frage mich, ob denn nur die Deutschen in Europa die richtige Entscheidung treffen können. Es gibt in Europa so gut wie kein Land, das keine Tempolimits hat. In der Hinsicht sind wir ein Unikat. Die Freiheit hat bei uns Vorrang vor Sicherheit und Menschenleben. Ich vergleiche das immer mit dem Bereich des Terrorismus. Wenn durch den Terrorismus ein Mensch zu Tode kommt, was sicher zu bedauern ist, ist man im Deutschen Bundestag bereit, ernsthaft neue Gesetze und Maßnahmen zu diskutieren. Wenn heute durch Fachleute berechnet wird, daß einige hundert Tote und einige tausend Schwerverletzte weniger allein durch ein Tempolimit und eine auch bauartbestimmte Höchstgeschwindigkeit für alle Fahrzeuge möglich sind, dann ist das in Deutschland noch nicht einmal eine ernsthafte Diskussion wert. Dabei würden eine Million Überholvorgänge durch ein Tempolimit entfallen. Das würde allein schon zu 200 bis 300 Toten weniger führen. Also: Geht ein Menschenleben im Terrorismus verloren, findet das Beachtung, sterben einige hundert Menschen im Straßenverkehr, hält man das lakonisch für einen normalen Tribut an die Mobilität der Gesellschaft. Das macht schon nachdenklich über die Sensibilität für das Menschenleben.

Sehen Sie noch andere Gründe für ein Tempolimit?

Ja. Allein ein Tempolimit nach französischem Vorbild mit Tempo 110 auf der Autobahn und Tempo 80 auf Landstraßen würde 3,4 Milliarden Liter Sprit und der Umwelt die entsprechenden Schadstoffe ersparen.

Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund die Diskussion um Tempo 30?

Alle gesetzlichen Maßnahmen sind nur dann sinnvoll, wenn sie auf eine gewisse Akzeptanz stoßen. Das Tempolimit auf Autobahnen hat heute eine weitgehende Akzeptanz in der Bevölkerung. Durchgängig Tempo 30 in den Innenstädten wird dagegen heute keine Akzeptanz finden.

Bei den innerörtlichen Tempolimits sollte man daher weitgehend autofreie Innenstädte mit Durchgangsstraßen verbinden, auf denen dann nicht Tempo 30 gilt. In vielen Spiel- und Wohnstraßen kann man auf Schrittempo gehen, das sind sechs Stundenkilometer. Ein vernünftiges Verkehrskonzept muß am Bedarf der Stadt orientiert werden. Gesetze und Regelungen allein sind nicht sinnvoll.

Die Zahl der Verkehrstoten hat in Ostdeutschland seit Öffnung der Grenze erschreckend zugenommen ...

Dort haben wir Tempo 100 nach wie vor, aber keine Kontrollen mehr. Die ersten, die sich nicht daran gehalten haben, waren die Westdeutschen. Offenbar ist die Einsicht des Menschen nur über den Geldbeutel erreichbar. Wenn Appelle nicht fruchten, muß man eben politische Regelungen schaffen, die für den Betroffenen Geld kosten.

Also wieder verstärkte Verkehrskontrollen?

Auf die können wir nicht verzichten. Wir als Westler haben das Tempolimit auf den Transitwegen ernsthaft eingehalten, weil eben das Risiko erwischt zu werden relativ hoch war und es viel Geld kostete. Sobald die Westler wieder über die Grenze waren, haben sie dann bei Helmstedt ordentlich Gas gegeben, auch wenn dort ein Tempo-100- Schild stand. Diese Kontrollen fehlen heute. Im Osten sind wir aber auch in einer katastrophalen Situation, weil die Trennung von Verkehrswegen für Autos, Fußgänger und Fahrräder vorher bei der geringen Verkehrsdichte nicht nötig war und jetzt fehlt. Wir haben das im Westen in den vergangenen Jahrzehnten aufgebaut. Vielleicht kann man in den Innenstädten mit verstärkten Tempo-30-Zonen schon etwas erreichen. Zuguterletzt haben die Menschen in der ehemaligen DDR vorher keine Erfahrung mit den schnellen neuen westlichen Automobilen machen können.

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