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Sehnsucht nach dem Mittelalter

■ Die Stadt der Zukunft wird anders sein müssen als sich manche erträumen: Eine neue Stadtentwicklungspolitik wird die heutige Verkehrspolitik vom Motor auf die Füße stellen. Ausufernde Vorstädte...

Die Stadt der Zukunft wird anders sein müssen als sich manche erträumen: Eine neue Stadtentwicklungspolitik wird die heutige Verkehrspolitik vom Motor auf die Füße stellen. Ausufernde Vorstädte und breite Autoschneisen werden überflüssig sein,

denn die neue Stadt ist kompakt.

VON FLORIAN MARTEN

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ackte schwitzende Leiber dicht an dicht, Lärm von gestikulierenden und lachenden Menschen, Abendessen auf der Piazza. mediterrane Bienenstockhotels, in denen es unaufhörlich schwirrt und summt — was treibt die Deutschen in den schönsten Wochen des Jahres aus ihrer Reihenhausidylle und weg vom abendlichen Gegenüber Glotze in den unverschämt lauten Süden mit seinen wimmelnden Massen? Ist es Sehnsucht nach dem Mittelalter? Oder der Wunsch nach Nähe und Begegnung? Ist es die Flucht vor der „Unwirtlichkeit der Städte“, die Stadtplaner und Bodenspekulanten mit dem Schlagwort von der neuen „Urbanität“ zu überwinden hoffen? Die mediterranen Städte haben viele ihrer urbanen Qualitäten aus dem Mittelalter mitgebracht, verglichen mit unseren Normstädten, in denen TÜV-Autos auf DIN-Straßen erfolgreich gegen Dämmwände und Fenster der Schallschutzklassen I bis V anlärmen.

Nie zuvor haben menschliche Gesellschaften soviel Zeit, Arbeit und Ressourcen in den Transport gesteckt. Die Ergebnisse sind ernüchternd: Zwar kann man in Husum Butter aus dem Bayerischen Wald kaufen, die weniger kostet als die von Deichkühen, während man in Bodenmais Joghurt aus der Lüneburger Heide schlürft — doch die Mobilität in den Städten sinkt dramatisch. Dies ist umso bedrückender, als die Menschen immer weitere Wege zurücklegen, um ihre Bedürfnisse zu befriedigen. In der DDR waren jene drei Wege, die europäische Städter pro Tag zurücklegen, im Schnitt kürzer als drei Kilometer — in Westdeutschland nähert man sich unaufhaltsam der 10-Kilometer-Marke.

Die Menschen sind immer langsamer auf immer längeren Strecken unterwegs. Sie machen dabei Dreck und Krach, verbrauchen unglaublich viel Platz. Es war noch nie so teuer, schädlich und ineffizient in der Stadt zu verkehren. In Deutschland ist es besonders schlimm. Siena ist tausendmal besser dran als Offenburg, Bologna als Bochum, Amsterdam als Hamburg, Shanghai als Frankfurt. Die deutsche Gesellschaft wird sich dieses selbstzerstörerische Stadtverkehrssystem nicht mehr lange leisten können. Ob der Wandel schockartig und plötzlich kommt, durch politische Hektik nach dem Zusammenbruch ganzer Öko-Systeme beispielsweise, durch Straßenblockaden verzweifelter Bürger und Bürgerinnen oder durch eine langwährende Übergangsphase, ob er 1996 kommt oder erst 2011, welchen Weg er nimmt, wohin er führt, kann man heute noch nicht wissen.

Die Träume von Industrie, Blumenkindern, Öko-Evolutionären, Stadt- und Verkehrsplanern laufen aus- und durcheinander. In den 70er Jahren waren metaphernreiche Ökotopia- Bücher im Schwange, die sich Lehmhütten und Fachwerk in einem weltweiten Garten erdachten. Alles würde klein- und großräumig vor sich hin kreisläufeln — Verkehr wozu? Diesem Paradies, das weder Stadt noch Land, Bäuerin oder Arbeiterin kennt, setzten die Beton- und Großtechnologie-Freunde ihr eigenes Stadtbild entgegen. Die Stadt ein gigantomanischer Legobaukasten: Hochhäuser, Industrielandschaften, Zentren aller Art, Hauptsache groß. All dies verknüpft durch Pipelines, rollende Fußwege, Blitzaufzüge, Überschall-Jets, Magnetbahnen, ferngesteuerten Kabinen mit Atomantrieb. Eine desinfizierte Welt, die Natur nur als grünen Zwischenraum kennt, als letztes Abenteuer den Mondspaziergang im Raumanzug. Die überwiegend männlichen Fantasten in Industrie und Autokonzernen haben ihre Visionen inzwischen ein wenig abgespeckt. Da wartet am Stadtrand das vollautomatische Hochregallager auf den wasserstoffgetriebenen Zwölfzylinder, der von Himmel und Erde, per Induktionsschleife in der Straße und Weltraumkommunikation über den Satellit, sicher seinen Weg findet — in bunter Zeichensprache in der Frontscheibe eingespiegelt. Die Innenstädte gehören Stadtelektroautos, kleinen Dritt- und Viertwagen, und den Magnetbahnen. Fachwerkhäuser und Stadtparks dürfen stehenbleiben.

Stadt- und Verkehrsplaner wissen, daß es so nicht gehen kann. Eine pragmatische Überlebensstrategie der wachsenden Menschheit verlangt andere Strategien. Ökonomisch, physikalisch und ökologisch haben Auto und Reihenhaus keine Zukunft. Sogar in den USA haben die Stadtplaner die Vorstadtringe, die „suburbans, subsuburbans“ etc. als Verkehrs- und Zivilisationskrankheit ersten Ranges ausgemacht. Stadt und Land werden sich wieder schärfer voneinander absondern, Städte werden nicht mehr zerfließen wie ranzige Butter. Die mittelalterliche Stadt hat vorgemacht, wie extrem hohe Mobilität und Funktionalität miteinander vereinbar sind. Arbeit, Wohnen und soziales Miteinander waren eng verflochten. Erst das 19. Jahrhundert hat mit Maschinen auf Schienen die städtische Raumdimension radikal verändert, machte die heutigen Großstädte möglich. An der Individualisierung der Motorisierung gehen die Städte zugrunde. Die Folgen, von der Flucht ins Umland bis zu der ans Mittelmeer, verschlimmern das Problem. Die Stadt der Zukunft wird Schienenverkehrsmittel und nichtmotorisierte Fortbewegung in ein harmonisches Miteinander bringen. Nicht Mittelalter oder 19. Jahrhundert, sondern vergangenheitsbewußte Weiterentwicklung heißt das Zielbild. Die neue Stadt ist kompakt. In ihr leben viele Menschen auf kleinem Raum. Reihenhauswüsteneien werden geschleift: Wer ein Einzelhaus will, wird aufs Land ziehen und es sehr teuer bezahlen müssen. Jeder wird eine Terrasse haben können, aber nicht jeder Studienrat oder Aldi-Zweigstellenleiter eine private grüne Grillwiese mit Zirbelkiefer.

Holländische Architektur hat die Strukturen des Stadthauses der Zukunft schon recht weit entwickelt. Es ist drei- bis viergeschossig, hat variable Grundrisse in den einzelnen Wohnungen und kann im Ensemble Bevölkerungsdichten wie die schlafstadtsilos der 60er Jahre berherbergen. Die DDR, die zwar Schlafsilos gebaut, in ihren mittelgroßen Städten aber die mittelalterlichen Stadtgrundrisse noch kaum durch Autoschneisen zerstört hat, besitzt hier ein unglaublich vielversprechendes Entwicklungspotential.

Der Abschied vom Auto bringt viel Platz und Bewegungsfreiheit. Schließlich frißt allein der Parkraum der Privat-PKWs heute bundesweit schon mehr Fläche als alle Kinderzimmer und Kindergärten zusammen. Büros, Schulen, Kinos, Läden und Fabriken können kleiner werden und sollen in die Wohnviertel zurück, aus denen sie der Architekten-Katechismus der Charta von Athen vertrieben hatte, der das Dogma der Trennung von Wohnen, Konsum und Arbeit zur Geißel der neuzeitlichen Stadtentwicklungspolitik machte.

Die Mobilität läßt sich von den krebsartigen Stauwucherungen nur befreien, wenn der Autoverkehr durch Fahrrad, Füße, öffentliche Schienenverkehrsmittel und ein buntes Mix von flexiblen öffentlichen Elektroautos ersetzt wird. Im Kurzstreckenbereich gibt es zu Fuß und Fahrrad keine Alternative. Für längere Strecken und größere Verkehrsachsen sind oberirdische Schienenverkehrsmittel konkurrenzlos effizient. Umfangreichere Einkäufe werden zugestellt, der städtische Güterverkehr wird auf ein modulares Elektroautosystem umgestellt. Es gibt ein Elektro-Taxi-System, auch Wochenendausflüge können ab und an mal per Ökomobil erfolgen, das sich je nach Einsatzzweck zusammenstecken läßt. Ökomobile und Öko-Busse sorgen im Umland für den Zubringerverkehr. Park & Ride wird es nur noch stark dezentralisiert und in verkleinertem Umfang geben. Ein so angelegtes Stadtverkehrssystem läßt sich auch schrittweise aus den heutigen Verhältnissen heraus entwickeln. Es ist unserem Reihenhaus- und Autowahn in jedem Detail überlegen.

Unser Leben wird sich ändern. Wir werden uns mehr bewegen, aber weniger unterwegs sein, mehr Begegnungen haben, aber kürzer fahren. Wir werden unserer direkten Stadtumwelt nicht ständig entfliehen können, aber den Wunsch verspüren, sie sich nach unseren Vorstellungen lebenswert zu machen. Urbanität ist nicht allein eine Klimafrage. Die Konsummultis haben das schon längst begriffen. Ihre neuen Passagen, Galerien und Einkaufszentren — selbstredend autofrei — orientieren sich ganz bewußt an „mittelalterlichen Straßen und Märkten“. Die Rückeroberung des Lebensraumes Stadt durch bewußte Aufwertung des öffentlichen Raumes kann natürlich auch ganz anders aussehen als jene Konsum-Zerrbilder verflossener Urbanität, welche uns die Passagen- und Center-Manager heute vorführen. Bologna läßt grüßen.

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