piwik no script img

Behelfsnotstand als Freibrief?

■ Mauerschützen-Prozeß zeigt viele Parallelen zu NS-Verfahren/ Darf bestraft werden, wer nach dem Gesetz handelte, oder zählt persönliche Verantwortung?/ Schon 1963 »goldene Brücke« für Schützen

Berlin. Im Berliner Mauerschützenprozeß berufen sich die vier Angeklagten zu ihrer Rechtfertigung auf die Gesetze der Ex-DDR und die Befehle ihrer Vorgesetzten. Für Rechtsexperten wie den leitenden Oberstaatsanwalt Alfred Streim, Chef der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen, treten damit deutliche Parallelen zur juristischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus zutage.

»Es gibt kaum ein Strafverfahren wegen NS-Verbrechen, in dem das Problem des sogenannten Befehlsnotstands nicht eine wesentliche Rolle gespielt hätte«, bilanzierte bereits Streims verstorbener Amtsvorgänger Adalbert Rückerl. Zwischen Behauptung und Beweis klaffte jedoch immer eine riesige Lücke, schrieb Rückerl: In keinem einzigen Fall habe sich das Verteidigungsargument der Angeklagten erhärtet, ihr Leib oder Leben sei in Gefahr gewesen, wenn sie sich einem verbrecherischen Befehl widersetzt hätten. Streim ergänzt: »Niemals wurde bewiesen, daß jemand erschossen, in ein Konzentratraionslager, SS-Straflager oder eine Bewährungseinheit überführt wurde.« Die Frage, ob den Mauerschützen bei Befehlsverweigerung harte Sanktionen gedroht hätten, spielt auch in Berlin wieder eine wichtige Rolle.

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat die Hürde für die Annahme eines »Befehlsnotstands« bereits 1952 sehr hoch gesetzt. In einem Grundsatzurteil sprachen die Karlsruher Richter den Angeklagten für ihre Mitwirkung bei Judendeportationen den rechtfertigenden Rückzug auf Befehl und Gesetz ab: Die Vorschriften hätten in offensichtlichem Widerspruch zum »Grundgedanken der Gerechtigkeit und Menschlichkeit« gestanden.

Allerdings wurde kein einziger Richter wegen seiner Mitwirkung an NS-Unrechtsurteilen strafrechtlich belangt und nach seiner eigenen Gewissensanstrengung befragt. So blieb der hohe Anspruch, den der BGH rückwirkend an jeden Bürger stellte, der irgendwie an der nationalsozialistischen Herrschaft beteiligt war, nicht unumstritten. Eine ähnliche Problematik prägt den heutigen Berliner Prozeß: Kann die Justiz der Bundesrepublik von den jungen, im DDR-System aufgewachsenen Grenzsoldaten rückblickend fordern, sie hätten unter Berufung auf höherrangige Rechts- und Moralgedanken Gesetze ihres Landes zurückstellen, wenn nicht sogar mißachten müssen?

Schüsse an der ehemaligen Zonengrenze waren übrigens schon 1963 Gegenstand eines Strafprozesses, damals vor dem Landgericht Stuttgart. Ein in die Bundesrepublik geflohener DDR-Grenzsoldat mußte sich wegen eines früheren Todesschusses auf einen 20jährigen Flüchtling verantworten. Das Gericht ließ DDR-Gesetze und -Befehle als Rechtfertigung nicht gelten, baute dem jungen Angeklagten aber eine »goldene Brücke«: Im Gegensatz zu den »Machthabern des Sowjetzonenregimes als eigentlich Verantwortliche« habe der Angeklagte, »der letztlich ein Opfer der unseligen Spaltung Deutschlands wurde«, »die volle Tragweite seines Tuns nicht übersehen können«, urteilten die Richter. Er erhielt nur 15 Monate Gefängnis.

Das Urteil von 1963 könnte für das Berliner Verfahren Vorbildwirkung haben — falls das Berliner Landgericht überhaupt eine generelle Strafbarkeit für die vier Grenzsoldaten annimmt. Dies ist nicht zwingend: Der anerkannte Bonner Strafrechtslehrer Prof. Gerald Grünwald hatte schon nach dem Stuttgarter Urteilsspruch betont, Schüsse an der Grenze dürften im Westen nach juristischen Maßstäben nicht bestraft werden, wenn sie im Einklang mit DDR-Gesetzen gestanden hätten. Grünwald ist, wie ein unlängst erschienener Aufsatz zeigt, bei seiner Meinung geblieben, und im Gegensatz zur herrschenden Ansicht in den 60er Jahren gibt es heute viele namhafte Juristen, die ihm beipflichten. Ulrich Hermanski/dpa

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen