: Das, was den Geist färbt
Neue Platten mit indischer Musik ■ Von Christoph Wagner
Was in Deutschland unter dem Etikett „Indien“ an Musik firmiert — Sitarklänge à la Ravi Shankar — ist nur ein winziger Ausschnitt aus einer nicht zu überschauenden stilistischen Vielfalt, die dieses Land zu bieten hat, das so groß ist wie ein ganzer Kontinent. 850 Millionen Menschen leben in dieser zweitgrößten Nation der Welt, ein Drittel davon unter erbärmlichen Bedingungen. Unterschiedliche Regionen und Religionen, Volksgruppen und Sprachen, Traditionen und Lebensumstände finden sich in der Art eines großen Flickenteppichs zusammen, dessen Buntscheckigkeit sich in der Musik wiederfindet.
Die eigentlichen Grenze, was die Musik anbelangt, verläuft zwischen dem Süden Indiens und dem Norden. Aus einer gemeinsamen Wurzel heraus haben sich ab dem 13.Jahrhundert zwei verschiedene Schulen herausgebildet. Die eine davon, die nördliche Hindustani-Tradition, entwickelte sich in Richtung weltlicher Hofmusik, während die andere, die südliche Karnatak-Tradition, eine geistliche Tempelmusik differenzierte. Allerdings blieben die beiden übergreifenden Grundlemente der Musik erhalten: Die Rhythmik — genannt „Tala“ — und die Melodik, genannt „Raga“. Eine leise Ahnung von der ungeheuren Komplexität indischer Rhythmik gibt der „Master of Tala“, der Meistertrommler Raja Chatrapati Singh auf seiner Handtrommel Pakhawaj. Sie gilt als die Urmutter der indischen Trommeln, aus der sich später die heute im Westen viel bekanntere Tabla entwickelt hat. Die Pakhawaj ist eine Quertrommel, die auf beiden Seiten mit einem Trommelfell bespannt ist. Ihr sonorer Ton wird mit Hilfe eines Teigfadens erzeugt, der, immer neu aus Weizenmehl geknetet, vor dem Spiel auf der linken Baßseite der Trommel angebracht wird. Es ist eine schwierige Kunst, die richtige Konsistenz des Teigs zu erreichen: wenn er zu naß ist, bleibt er beim Trommeln an der Hand kleben; ist er zu tocken, fällt er vom Trommelfell ab, wenn stärker geschlagen wird.
Der Ausgangspunkt der indischen Trommelkunst ist die Sprache. Jeder Rhythmus kann in einer Silbensprache gesprochen werden, wie auch Sprache lautmalerisch von der Trommel widergegeben werden kann, sodaß mit bestimmten Schlagmustern die Namen der Götter „angerufen“ werden können. Das Zwillingsstück zur Rhythmik bildet die Melodik. Sie differenziert sich in bestimmte Tonsysteme, von denen jedes eng mit einer geistig-emotionalen Stimmung verbunden ist, einer bestimmten Gemütslage, in die sie die Zuhörer versetzen soll, die abhängig ist von der Tages- sowie der Jahreszeit. „Raga“ ist der indische Ausdruck dafür, was so viel bedeutet wie: „Das, was den Geist färbt“. Dem „Raga“ werden beschwörende Kräfte auf die Natur nachgesagt.
Die älteste erhaltene Raga-Musiktradition im nordindischen Kulturkreis wird Dhrupad genannt, was in wörtlicher Übersetzung „genau festgesetzter Vers“ bedeutet. Ursprünglich waren die Dhrupad- Verse Transportmittel der Spiritualität. Sie waren keiner sozialen Religion verpflichtet, sondern auf eine abstrakte Religion des Klangs gerichtet oder stellten — im anderen Fall — eine Übung innerer Disziplin dar: ein Yoga des Klangs. Die Ursprünge dieses alten Gesangsstils können bis in die Hütten der Seher, Asketen und Einsiedler im Wald von Vrindaban am Ufer der Jamuna zurückverfolgt werden, die alle auch Sänger und Dichter waren. Sie übertrugen im 15.Jahrhundert die alten Geschichten vom Leben des Gottes Krishna vom Sanskrit in die Umgangssprache des Volkes. Der Dhrupad ist der strengste der traditonellen indischen Gesangsstile, weswegen er als besonders schwierig gilt. Nur wenige Musiker, wie etwa R. Fahimuddin Dagar, beherrschen heute noch diese Kunst, als dessen letzter großer Meister Ram Chatur Mallik gilt, der fast so alt ist wie das Jahrhundert (Jahrgang 1902). Eine Aufnahme aus dem Jahre 1982 (jetzt erschienen) dokumentiert die brillante Gesangsdarbietung dieses „Master of Raga“, dessen Kunst neben der musikalischen eine weit wichtigere spirituelle Dimension hat: Ein Dhrupad-Meister singt immer auch vor Gott.
Als das weibliche Pendant zu Ram Chatur Mallik könnte man die SängerinGangubai Hangal (Jahrgang 1913) bezeichnen — die große alte Dame der klassischen indischen Musik. Die große Strenge ihres Gesangs sowie die Reinheit und Einfachheit ihrer Vortragskunst hat sie zur beherrschenden Figur der Tradition des Kiranba-Gesangsstils gemacht. In der moderneren Ausdrucksform des „Khyals“, der zwischen Komposition und Improvisation abwechselt, gelingt es ihr mühelos, ihre Zuhörer in die Stimmung der gewählten Raga zu versetzen. Dunkel gefärbt fängt es in den unteren Lagen an und steigert sich im Wechselgesang in fast ekstatische Höhen. Gegen diese musikalischen Versenkungsübungen der beseelten Alten wirken die südindischen Flötentöne von K.S. Gopalakrishnan doch recht oberflächlich und dünn. Mit seinem verklärten Hundeblick und graumelierten Bart sieht er nicht nur aus wie der indische Zwillingsbruder von Georges Moustaki, sondern bedient auch am offensichtlichsten das westliche Klischeebild vom „meditativen“ Indien, an dem man angeblich ohne große Anstrengung seine zivilisationsgeschädigte Seele wieder auftanken kann.
Raja Chatrapati Singh: Pakhawaj Solo (Master of Tala). Wergo SM 1075-50
R. Fahimuddin Dagar: Dhrupad (Master of Raga). Wergo SM 1081-2
Ram Chatur Mallik: In Concert: The King of Dhrupad (Master of Raga). Wergo SM 1076-50
Gangubai Hangal: The Voice of Tradition: Vocal Music from North India. Wergo SM 1501-2
K.S. Gopalakrishnan: Carnatic Flute. Wergo SM 1502-2
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