: In Greifswald dreht sich der Wind
2.000 Menschen demonstrierten gegen zentrales atomares Zwischenlager an der Ostsee/ Treuhand-Vorstand beharrt auf Plänen für bundesweites Zwischenlager und neue Atommeiler ■ Von Gerd Rosenkranz
Greifswald (taz) — Einige hundert mögen es sein, die noch nach dem Ende der Kundgebung im Novemberregen auf dem historischen Marktplatz der Hansestadt ausharren. Geduldig bilden sie eine Schlange, schieben sich vor bis an den Tapeziertisch, wo die örtliche Bürgerinitiative die Unterschriftenlisten „gegen ein bundesweites Atommüllzwischenlager in Greifswald/Lubmin“ ausgelegt hat. Es ist ein ruhiger, bestimmter Protest. Und einer, der einen erstaunlichen Stimmungswandel hinter sich weiß.
Vor nicht mal zwei Jahren trieb es die Greifswalder schon einmal auf die Straße und zu den Unterschriftenlisten. Ihr Anliegen damals: Die Rettung der inzwischen stillgelegten Reaktorzentrale im nahen Lubmin. Seinerzeit mußten Atomenergiegegner wie die unermüdliche BI-Vorsitzende Rosemarie Poldrack froh sein, wenn sich die Wut der Kernkraftwerker über die „Nestbeschmutzer“ nur verbal entlud. Das ist nach den Enthüllungen der vergangenen Wochen vorbei. Gegen den Versuch der deutschen Atomwirtschaft, sich hier in Vorpommern ihrer strahlenden Hinterlassenschaft zu entledigen, gingen am Samstag etwa 2.000 Menschen aus der Region auf die Straße. Es war die erste große Anti-AKW-Demonstration in Greifswald.
Genau diese Entwicklung hatten jene vermeiden wollen, die den Atomstandort an der Ostsee auf Dauer erhalten wollen. Vom Greifswalder Oberbürgermeister Reinhard Glöckner (CDU) über den Schweriner Ministerpräsidenten Alfred Gomolka (CDU) bis hin zum Bonner Reaktorsicherheitsminister Klaus Töpfer (CDU) hatten die Politiker unisono die Greenpeace-Behauptung eines zentralen deutschen Atommüll-Zwischenlagers zurückgewiesen. Am Ostsee-Bodden könne es nur darum gehen, für Atomschrott aus den Lubminer Meilern und dem ebenfalls stillgelegten Uralt-AKW Rheinsberg ein Plätzchen für die kommenden Jahrzehnte bereitzuhalten. Deshalb, ließ Stadtoberhaupt Glöckner die BI wissen, gebe es für ihn auch keinen Grund, an der Protestkundgebung teilzunehmen.
Tatsächlich sind auch die Menschen auf dem Marktplatz an diesem ungemütlichen Nachmittag bereit, für die „Sünden der Vergangenheit geradezustehen“, wie der SPD-Bundestagsabgeordnete Hinrich Kuessner betont. Für den heimischen Atommüll, müsse es vor Ort eine Zwischenlösung geben, bis die Entsorgungsfrage gelöst sei und ein Endlager zur Verfügung stehe. Aber auf Dauer soll Greifswald weder Atommüll- noch Atomkraftstandort bleiben. Wenn der Name der Hansestadt künftig weiter für ein unkalkulierbares Strahlenrisiko stehe, würden potentielle Investoren „auf dem Hacken umdrehen“ und Touristen die Ostseeregion meiden, rief Kuessner unter dem Beifall der Demonstranten.
Über die „verharmlosenden Darstellungen“ des geplanten Zwischenlagers erregte sich BI-Vorstand Ullrich Bittner. In der Tat sind weder die Überlegungen für eine gewaltige Anlage für 10.000 Tonnen hochradioaktive abgebrannte Brennelemente und 200.000 Kubikmeter schwach- und mittelaktiven Müll vom Tisch, noch Pläne für zwei neue Atommeiler am Standort Lubmin. Am Vorabend der Demonstration schüttete Treuhand-Vorstand Klaus Schucht mit der Bemerkung Öl ins Feuer, es sei „durchaus denkbar, ein Zwischenlager nicht nur auf Greifswalder Müll zu beschränken“. Außerdem halte er es „für sehr wahrscheinlich, daß hier auch wieder ein Atomkraftwerk gebaut wird“. Und Ende Oktober bestätigte das Schweriner Umweltministerium, daß alle West-Atomkraftwerke — auf der Grundlage einer Genehmigung aus realsozialistischen Zeiten — schwach- und mittelaktiven Müll in Lubmin „konditionieren“ dürfen. Das stillgelegte AKW Mülheim- Kärlich hat die freundliche Einladung bereits angenommen. 40 Kubikmeter flüssiger Strahlenmüll wurden bereits behandelt. Das Datum des Rücktransports steht noch nicht fest.
Die Demonstranten vom Samstag waren mehrheitlich (noch) nicht identisch mit denen, die im Winter 1990 den AKW-Gegner und Minister des Neuen Forums, Sebastian Pflugbeil, „in den Tagebau“ schicken wollten. Doch der Wind in der Region hat sich gedreht. Das bekamen auch zwei Mitglieder der örtlichen Künstlergruppe „Art 7“ zu spüren. Die hatten am Samstag früh fünf große Mahnkreuze mit dem Radioaktivitätssymbol an die Straße nach Lubmin gepflanzt — Einheimische aus dem AKW-Standort und „Ostseebad“ zollten ihnen Lob.
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