: Bürgerfrieden oder Bürgerkrieg?
Auf einem Seminar des Bündnis 90/Die Grünen diskutierten sowjetische Intellektuelle über den Zusammenhang von Nationalismus und Rassismus in Rußland/ Kritik an den frischen Demokraten ■ Von Ingo Zander
„Wenn Minderheiten verfolgt werden, ist Rußland gestorben.“ Man wußte nach den eindrucksvollen Schilderungen über jüdisches Leben in der Geschichte der Sowjetunion nicht, ob Alexander Askoldov damit seine Lagebeurteilung zusammenfassen wollte oder nur eine Ahnung artikulierte. Der Regisseur des Films Die Kommissarin berichtete auf dem Seminar des Bündnis 90/Grüne letzte Woche in Bad Godesberg nicht nur über Antisemitismus und Exodus jüdischer Landsleute, sondern auch über den Verrat von Intellektuellen und den Folgen für das kulturelle Selbstbewußtsein und Leben in der UdSSR. „Die Tragödie unseres Landes ist auch die Tragödie unserer Kunst, nicht nur in der bürokratischen Auslegung. Massenhaft feiges Verhalten der Intellektuellen muß benannt werden.“ Askoldov möchte, daß die Moral in die Politik und überhaupt wieder ins Leben zurückkehrt. Und dies sei nur durch radikale Wahrheitssuche möglich — für die Geschichte der Sowjetunion, aber auch ihre Gegenwart. „Alle Mythen müssen sterben, sonst wird sich alles wiederholen!“ rief er beinahe beschwörend ins Auditorium.
Gemeint war damit auch, daß Westeuropa viel kritischer auf die neuen „Demokraten“ blicken müßte. „Seien Sie wachsam!“ Als Beispiel nannte er Boris Jelzin. „Ich habe meine eigenen Erinnerungen an Jelzin, als er noch Parteichef in Moskau war. Jelzin hat mich im November 1988 aus der Partei ausgeschlossen.“ Komisch sei es, daß die neuen Demokraten keine Probleme damit hätten, plötzlich eine 150 Meter lange Fahne zu tragen — die des neuen Rußland —, und dabei „Es lebe Jelzin“ zu schreien. „Ich bin davon überzeugt, daß Demokratie nicht heißt, in Reih und Glied zu marschieren.“ Die Siegeseuphorie der Massen sei irrational angesichts der realen Proleme. Von diesen lenkten interessierte Kreise auch dadurch ab, daß tagtäglich von der Gefahr eines neuen Putsches schwadroniert werde. „In diesem angespannten Energiefeld existieren Juden und Nichtjuden und leere Regale.“ Für die Juden bedeute dies ein Leben in Erwartung neuer Pogrome.
Askoldovs Schilderungen provozierten bei anderen sowjetischen Gästen Kritik. Hassan Hussejnow, Ethnologe und derzeit Stipendiat an der Humboldt-Universität in Heidelberg, hat sich seit zehn Jahren — seit dem Afghanistankrieg — mit den ethnischen Konflikten beschäftigt. „Das Problem Askoldovs ist, daß er alle Hassenden in einen Sack packt. Alle Rassisten, alle Antisemiten, alle Intellektuellen, die ihm nicht gefallen, sind drin.“ Es entstünde die Gefahr, „daß das Bild der Hassenden eine Quelle seines eigenen Hasses werden könnte“. Doch Hussejnow sieht, wie er sagt: als Wissenschaftler, die Lage wahrscheinlich düsterer als Askoldov. „Das wichtigste ist, eine Therapie gegen den Rassismus zu finden.“ Die Ideologie der Nation als absoluter Wert sei das Problem. Der Nationalismus in der heutigen UdSSR ist nach ihm tendenziell rassistisch. Er ist seiner Natur nach „tribalistisch“, nicht nur Reflex auf die gegenwärtigen sozialen Konflikte. Hussejnow kann auch nicht in der Beschwörung kultureller Traditionen ein harmloses Medium sehen, um im Zerfallsprozeß der UdSSR neue demokratische Identitäten anbieten zu können. Zu nahe niste in dieser Mentalität eine zweite Beschwörung — die des „Volksfeindes“, der vorher lediglich als politischer Gast geduldet war. Er selbst bekommt dies immer wieder zu spüren, als Sohn einer jüdischen Mutter aus Odessa und eines Vaters aus Aserbaidschan, der sich als Russe fühlt. Gerade erst hatten die Taxifahrer in Moskau gestreikt: Schwarzhaarige wollten sie nicht mehr fahren. Eine integrative Lösung sei heute, wenn überhaupt, nur mit Hilfe von außen möglich.
„Diese Hilfe muß nicht unbedingt wirtschaftlich sein“, meint Naira Gelaschwili, eine Vertreterin der oppositionellen Grünen in Georgien. „Was wir aber vor allem baruchen, sind Beobachter vor Ort, eine internationale Öffentlichkeit, die als Schutz für die Opposition und die Intellektuellen fungieren kann.“ Der derzeitge Präsident Georgiens, der die Macht usurpierte, würde dann vielleicht vorsichtiger werden und der Opposition mehr öffentlichen Raum zugestehen müssen. Ein politisches Leben ohne nationale Identität könne sie sich nicht vorstellen. „Ich bin Georgierin und möchte das Schicksal meines Volkes in mir tragen.“ Die Nation müsse weltoffen sein — nicht eng oder chauvinistisch.
Gibt es für diese Minderheiten in den multiethnischen Staaten institutionellen Schutz für ihr Leben und Menschenrechte, bleibt die Hauptfrage nach dieser wichtigen deutsch- sowjetischen Begegnung. Alexej Cheistwer, Historiker aus Moldawien und Mitglied der Gesellschaft „Memorial“, hatte für seine Heimat ein Modell vorgestellt, welches vielleicht auch in anderen Regionen Frieden stiften könnte. „Jene fünf Staaten, die sich für den Schutz der dortigen Bevölkerung einsetzen könnten: Rumänien, Rußland, Bulgarien, die Türkei und Ukraine, sollten gemeinsam den internationalen Status und die Unabhängigkeit des Staatswesens absichern.“ Die Einwohner könnten dann je nach Ethnie und Wunsch eine doppelte Staatsbürgerschaft erhalten — die Bessarabiens und eines der Garantieländer.
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