: „Alles tote Dose“ — oder was?
Göttinger SchülerInnen demonstrieren für ein Verbot von Getränkedosen und Einwegverpackungen ■ Aus Göttingen Reimar Paul
„Man versteht ja heute“, brummt der alte Rentner, der sich jeden Morgen mit Freunden im Innenstadtcafé zu Kakao und Cognac trifft, „sein eigenes Wort nicht mehr.“ Von draußen dringen Geschrei, Paukenschläge, Büchsengeschepper und Trillerpfeifenlärm ins Warme, von einer improvisierten Bühne vor dem Alten Rathaus dröhnt eine Rockband. Schon beim Anmarsch hat der Alte an diesem Tag seine liebe Müh gehabt, die Straßen sind mit mehreren tausend fähnchenschwenkenden und transparentbehangenen SchülerInnen verstopft. PassantInnen, die sich durch das Gewühl zwängen, stolpern alle paar Meter über Bollerwagen und Holzkisten, die mit leeren Getränkedosen gefüllt sind.
15.000 Blech- und Aluminiumbüchsen hat die SchülerInnen-Aktion Umwelt (SAU) in den vergangenen drei Wochen gesammelt — das doppelte der Menge, die in der Universitätsstadt täglich anfällt. Der gewaltige Dosenberg ist denn auch der Grund des spektakulären Protestes. „Allein in den alten Bundesländern sind es pro Jahr drei Milliarden Büchsen“, erläutert ein Zwölfjähriger dem verdutzten Kellner des Ratskellers. Der Gymnasiast ist mitmarschiert, um der SAU- Forderung nach einem Verbot von Getränkedosen und Einwegverpackungen ordentlich Nachdruck zu verleihen. „Göttingen muß die erste dosenfreie Stadt werden“, kräht er, „alles tote Dose.“
Auf dem Marktplatz sind mittlerweile tausende Cola- und Bierbüchsen zu einem 20 Meter hohen und acht Meter breiten Vorhang geknüpft worden. Später am Nachmittag soll hier eine Kundgebung mit mehreren „Dosen-Reden“ über die Bühne gehen. In der Aula der Integrierten Gesamtschule sitzen sich zur selben Zeit UmweltschützerInnen und SupermarktgeschäftsführerInnen bei einer Podiumsdiskussion gegenüber, am Abend läuft eine große „Anti-Dosen-Rede“.
Um möglichst vielen SchülerInnen die Teilnahme an der Demo zu ermöglichen, hatte es der niedersächsische Kultusminister Rolf Wernstedt den Schulen freigestellt, den Unterricht ausfallen zu lassen. Vier von fünf Gymnasien sind seit der vierten Stunde ganz geschlossen, an den meisten Realschulen ist das Unterrichtsangebot pro forma aufrecht erhalten worden. Und wo besonders störrische RektorInnen von Freistellungen nichts wissen wollten, haben die LehrerInnen mit ihren Klassen „Unterrichtsgänge“ ins Stadtzentrum angemeldet.
Der „Tag der Dose“ ist nicht die erste aufsehenerregende Aktion der SAU. Vor zweieinhalb Jahren wurden nach einem mehrwöchigen Boykott Einwegflaschen und Plastikverpackungen aus den Göttinger Schulkiosken verbannt. Ähnlichen Erfolg erhoffen sich die SchülerInnen auch dieses Mal. „Das wäre doch was“, brüllt einer gegen das Spektakel an, „wenn wir hier zum ersten Januar dosenfrei wären.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen