: Die Spottgeburt
Über den jungen Rimbaud anläßlich des 100.Todestag ■ Von Gerd Hamann
Er kam als kleines Monster zur Welt, wird allenthalben behauptet. Er hatte von Geburt an dicke Zornesadern auf der Stirn. Sein Gesicht war das eines Urwaldviehs, aus energiedurchdonnerten Tummelpläten des Urwalds plötzlich in den engen Käfig der Zivilisation gestoßen. Die bärtigen Nachbaronkels prügelten ihn, und Tanten träumten nachts schreiend von seinen tollen Späßen.
Alle geben der Mutter schuld. Madame hatte ein „saures Wesen“, sie war eine pflichtbewußte und zähe Katholikin, eine Frau ohne Erotik. Das wußte wohl auch der Vater. Arthur kannte ihn kaum.
Die Exzesse mit der Mutter nahmen von Jahr zu Jahr üblere Formen an. Sie sah eine „Spottgeburt aus Feuer und Dreck“ in ihres Hauses vier Wänden sich breit machen. Sie verdoppelte die Gänge in die Kirche und ließ die Kinder stundenlang unterm Marienbild knien.
Die Pflichtveranstaltung „Schule“ durchlief Arthur gelangweilt, verzog sich nachmittags in die Wiesen oder auf den Abtritt und schrieb Berge von Zetteln mit Versen voll. Er verbiß sich vor Lust in ein Dorfmädchen, und die Stadt klaschte sich in empörte Erregung. Bürgermeister und Kapläne belagerten die gute Stube der Mutter, soffen ihren guten Wein weg und konstruierten Erziehungstechniken.
Rimbaud lief ahnungslos in die Fallen. Die umzäunte Welt wurde ihm immer unerträglicher. Es genügte ihm nicht, heimlich in den Fuhrmannsschenken irgendwelchen Bauernungetümen Gedichte vorzutragen. Am heftigsten zog es ihn zu Izambard, seinem Lehrer, wo er mit schrankenlosem Ungestüm seine geistigen Horizonte ausdehnen konnte.
Er bekam ein Buch von Paul Verlaine in die Hände und war getroffen von der Hemmungslosigkeit der Verlainschen Sprachbögen. Es reizte ihn maßlos, bei dem Urheber eine Stichprobe zu nehmen, er packte wahllos ein knappes Dutzend seiner Gedichte zusammen und ließ sie auf Verlaine los.
Verlaine, ein abgehalfterter Beamter ohne Stellung, der sich in literarischen Kreisen einen gewissen Ruf erworben hatte, war beeindruckt von den Versen des kaum Siebzehnjährigen. Trotz seiner Ehe wurden ihm homosexuelle Affären nachgesagt, und so beeilte er sich, eine Antwort abzuschicken, und wartete tagelang wie ein Verliebter auf den Abendzug aus Charleville.
Als Rimbaud dann wie ein Stromer in sein Haus einbrach, zerlumpt, dreckig und mit wirren rotgoldenen Haaren; als sich in Paris ein großer Junge vom Lande präsentierte, ungeschickt und listig, attraktiv und kraftvoll, da stand Madame Verlaine ratlos hinterm Eßtisch und kämpfte mit Tränen und Gelächter. Einen Dreißigjährigen hatte sie vermutet, eine in der Großstadt hilflose Provinzfigur. Und hier hieb ein toller Kerl mit einem Tiergebiß in die Mahlzeit. Vermutlich ahnte sie die Gefahr, die ihr Eheleben von jetzt an bedrohte.
Tatsächlich entwickelte sich eine stürmische Liebesbeziehung zwischen Arthur und Paul. In dieser Zeit entstand die hochgelobte Poesie, die den üblen Knaben so berühmt machte. Als die Beziehung vorbei war, hörte auch das Dichterleben auf — so platt könnte man zusammenfassen, was in den letzten 100 Jahren über Rimbauds Leben geschrieben wurde.
Skandal und Literatur gehörten schon immer zusammen: in den Bürgerhäusern von Charleville wie in den Schreibfedern zahlreicher Rimbaud-Biographen. Das Verhältnis zu Verlaine, von den Spießern damals mit Gift und Jauche begossen, von den Heutigen meistens geleugnet, war zum Großklatsch geworden. Alle energischen Dementi der Familie, vor allem der Mutter, halfen nichts. Die Stadt suhlte sich in der angeblichen Verworfenheit dieses Zigeunerknaben und brannte darauf, daß sich hier Exzesse gleicher oder noch wilderer Art wiederholen möchten. Rimbaud tat ihnen den Gefallen nicht. Er hatte geglaubt, den von der Mode getragenen Künstlern in offene Arme zu laufen — aber es waren nur die Arme Verlaines. Er konnte natürlich nicht wissen, daß er in dieser honorigen Welt des Kunstbeamtentums nichts zu suchen hatte. Er sah ein Lächeln, das gemeiner war als der Verlach der heimatlichen Spießer, er ekelte sich vor dem „parfümierten Schleim“. Die „ästhetische“ Gefälligkeit ist die schlimmste Unreinheit.
Was fand er vor in Paris? Eine ebenso enge Welt wie im Jaucheloch Charleville, voll von mittelmäßigen und befriedigten Poeten, die sich über Schönheit und Kunst unterhielten. Rimbaud wird diese Welt wohl auf den ersten Blick gehaßt haben. Der Haß war mindestens so groß wie die Enttäuschung über Verlaine. Das tägliche Leben zeigte ihn nicht mehr als Vorbild, sondern als schwachen Charakter, der von Männlichkeit träumte und sein Unvermögen mit Alkohol betäubte. Der Knabe konnte mehr vertragen als der schwache Verlaine. Was Rimbaud in seinen Versen sagte, wollte er auch leben — Verlaine liebte die Verse und den Jungen, hatte aber nicht die Fähigkeit, darüber hinauszugehen.
Was Rimbaud herbeiwünschte, war ein Verschwinden der alten Formen, im Leben ebenso wie in der Literatur. Es geht um die Aufgabe aller überkommenen Vorstellungen, aller Traditionen. Daher ist Rimbaud kein Poet herkömmlicher Art, er ist kein pedantischer Wortzusammensteller, sondern ein phantastischer Visionär, der den poetischen Plunder anderen überließ. Natürlich kann man das Aufheben von Zuständen Zerstörung nennen, und Zerstörung riecht immer irgendwie nach Bulldozern. „Ein gewisses Maß an Zerstörung ist notwendig.“ Diese lapidare Feststellung wurde Rimbaud genüßlich um die Ohren geschlagen: Er sei ein Rebell, ein Aufwiegler.
Natürlich war Rimbaud mehr als reizbar, kein Anlaß war zu klein, als daß er nicht zu einem Kampf werden konnte. Rimbaud stieß immer zuerst los, warf sich auf den Gegner, ohne sich zu Erklärungen herbeizulassen; die ersten Worte schon mußten den Gegner blutig schlagen, ein Schimpfwort kam leicht über seine Lippen. Sich den Mund abwischen und das Gesagte herunterspülen.
Natürlich war der junge Rimbaud listig und gerissen, ein „örtlicher Schandfleck“ (Mayer), rüpelhaft und zynisch. Heutzutage stünde Rimbaud am Hauptbahnhof.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen