: Kurdistan: Neue Tragödie steht bevor
Hilfsorganisation befürchtet militärischen Angriff der irakischen Armee/ Wirtschaftsblockade verschärft die Situation der Flüchtlinge/ Knapp eine Million sehen dem Winter schutzlos entgegen ■ Von Jürgen Gottschlich
Berlin (taz) — In Kurdistan häufen sich die Indizien, daß ein erneuter militärischer Schlag Saddam Husseins gegen die unbotmäßige Minderheit im Norden des Landes bevorsteht. Seit Dienstag dieser Woche hat die Armee alle Straßen, die in das von Kurden kontrollierte Gebiet führen, gesperrt. Am 2. und 4. November bombardierte die irakische Luftwaffe vier kurdische Kleinstädte in dem Bezirk Kirkuk. Nach Berichten der Kurdistan-Front hat Saddam darüber hinaus die letzten noch existierenden Versorgungseinrichtungen in Kurdistan lahmlegen lassen und sämtliche Staatsangestellten aus den kurdischen Gebieten abgezogen. Davon betroffen sind auch Elektrizitätswerke. Treibstofflieferungen sind vollständig eingestellt worden. Dies bestätigten Mitarbeiter der Hilfsorganisation „Cap Anamur“ die noch in Kurdistan arbeiten. Der Vorsitzende der Organisation, Rupert Neudeck, befürchtet gar, daß die Blockade auf einen neuerlichen irakischen Angriff hindeuten könnte. Neudeck: „Ich hoffe, daß wir nicht Zeugen eines neuen Massakers werden müssen.“ Die Führung der Kurdistan-Front geht davon aus, daß Saddam die Kurden durch die Wirtschaftsblockade dazu zwingen will, eine „Autonomie-Regelung“ nach seinen Vorstellungen durchzusetzen. „Er will uns zwingen zu unterschreiben“, meint Verhandlungsführer Massud Barsani.
Selbst ohne direkten militärischen Angriff sieht es für die Kurden düster aus. Kamal Kerkuki, im Zentralkomitee der Demokratischen Partei Kurdistans verantwortlich für die Menschen innerhalb der alliierten Schutzzone, ist verzweifelt: „Wir stehen erneut vor einer Tragödie, wenn nicht ganz schnell massive internationale Hilfe kommt.“ Doch die ist weit und breit nicht in Sicht. Im Gegenteil, nachdem die alliierten Truppen bereits im Sommer die sogenannte Schutzzone verlassen haben, will auch die UNO, die im Moment die internationalen Hilfsmaßnahmen koordiniert, bis Ende des Jahres ihre Leute abziehen. „Dann“, so Kamal zur taz, „stehen wir mit rund 800.000 Flüchtlingen ganz alleine da.“ Die Flüchtlinge, das sind die Menschen aus Städten wie Qala Dize — früher 70.000 Einwohner, heute vollständig zerstört — die jetzt irgendwo in den kurdischen Bergen unter einer Plastikplane hocken und darauf warten, daß ihnen jemand sagt, wie es weitergehen soll. Dazu gehören die Bewohner der kurdischen Dörfer, die jetzt nicht mehr existieren, weil die irakische Armee die Reste, die seit dem letzten Rachefeldzug Saddam Husseins im September 1988 noch standen, im März dieses Jahres zerstörten: um der kurdischen Guerilla endgültig die Basis zu entziehen. Insgesamt 4.200 Dörfer wurden nach UNO- Angaben in den letzten zwei Jahren dem Erdboden gleichgemacht. So kommt es, daß die meisten irakischen Kurden die nicht in den Iran oder die Türkei geflüchtet sind, nun obdachlos durch ihre Heimat irren oder in notdürftigen Lagern leben. Viele von ihnen, so fürchtet nicht nur Kamal, werden den Winter nicht überleben. In den kurdischen Bergen fallen die Temperaturen auf 20 und mehr Minusgrade, mit einer Zeltplane ist da nicht geholfen.
Seit der Niederschlagung des Aufstandes im März verhandeln die Vertreter der Kurdistan-Front, in der acht kurdische Parteien zusammengeschlossen sind, mit dem Saddam- Regime in Bagdad. Solange die USA und die Weltöffentlichkeit noch Anteil nahm am Schicksal der Kurden, sollte mit Saddam ein Autonomievertrag ausgehandelt werden der ein Minimum an Sicherheit garantiert. Bis heute ist aus dem Vertrag nichts geworden, obwohl bereits seit 1970 ein Regelwerk vorliegt, auf das die Verhandlungspartner zurückgreifen können. Die Streitfragen sind heute dieselben wie damals: welches Gebiet umfasst die autonome Region Kurdistan, gehört die Ölförderzone im Kirkuk dazu, besitzt die autonome Region die Steuer-, Finanz- und Polizeihoheit. Zur Zeit laufen die Gespräche auf ganz kleiner Flamme — vier kurdische Delegierte drängen im Moment in Bagdad auf die Rücknahme der Wirtschaftsblockade.
Für den Wiederaufbau in Kurdistan hatten die Verhandlungen jedoch einen äußerst negativen Aspekt. Die Leute warteten auf ein Ergebnis bevor sie begannen, feste Häuser zu bauen. Doch nun ist der Winter da. Die Mitarbeiterin einer deutschen Hilfsorganisation findet, hier hätten auch die kurdischen Parteien mehr tun können. Was die eigene kurdische Wiederaufbauorganisation KRO bislang geleistet hat, sei nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Das gilt erst recht für die internationalen Organisationen. Maximal 5.000 Häuser für höchstens 40.000 Leute sind bislang in den drei Provinzen Dohuk, Arbil und Suleymania durch die UNO-Flüchtlingsorganisation gebaut worden. Mehr ist auch nicht zu erwarten, da die UNO sich bereits im April mit Bagdad darauf verständigt hat, ihren Einsatz auf Nahrungsmittelhilfe und die Bereitstellung „vorübergehender Unterkünfte“ zu beschränken. Gestern wurde in Rom bekannt, daß die UNO ihre Hungerhilfe angesichts der prekären Situation noch einmal um 15 Mio. Dollar erhöhen will.
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