Schattenberlin

■ »Das ist mein Nordpol«: Berlin

Ich höre den feinen Staub, der zwischen den Ziegeln rieselt. In Zagreb blühen die Kastanien, und ihre weißen Blüten liegen verstreut auf den Gehwegen des Prilaz. Mai 1988.

Meine Mutter im Heim hat wieder das Lächeln eines jungen Mädchens.

Ich töte in der Wohnung die Ameisen. Das Telefon klingelt, wir sind zurück, die Freunde melden sich. Ich kann niemandem erklären, daß ich nicht wirklich weg war, daß ich nicht wirklich angekommen bin.

Nur: Die Zeit ist vergangen, das Haar wie nebenbei grau geworden. Zwischen zwei Städten des südlichen und westlichen Europas verbrauchte ich etwas von meiner Kraft und wandte mich dem Gedächtnis zu. Ich trug in mir zwei Himmelsfarben, das südliche und das nördliche Klima. Habe mich nicht zu einem Abschied entschlossen, nicht zu einem Bleiben anderswo. Wollte es nicht. Mit Anstrengung versuche ich die Enden zweier Drähte, zweier Entfernungen zusammenzukriegen, ich ziehe an ihnen, die Finger sind schon wund.

Zagreb wurde in der Zwischenzeit noch etwas baufälliger, die Leute hörten immer nervöser meinen Geschichten zu über die kalten Straßen irgendwo anders: Ach, wie bist du verwöhnt! Jener, der reist ohne Zeichen von erlangter Macht oder erwirtschaftetem Vermögen, wird für andere leicht zu einem Sonderling. Nur das hast du erlebt? Keine anderen Abenteuer?

Mein fernes und unbekanntes Berlin, mein Nordpol, der zu entdecken war, mein Abenteuer — war von Zagreb nur etwa tausend Kilometer entfernt. Und doch war es für mich jener sogenannte weiße Fleck auf der Landkarte, ein unbekanntes Gebiet und nicht nur ein literarisches Unterfangen. Und so wußte ich damals nicht einmal, welchen Proviant man auf diese Reise mitnehmen muß, welche Kleidung, welche Medikamente.

In meinem Koffer im September 1966 fanden sich ein paar Wintersachen, Papiere mit Notizen, das Fragment von Stancićs Mondkind auf dem Stück Leinwand, die Formulare für die Bewerbung an der Film- und Fernsehakademie, zwei Lyrikbände, in einem das Tabakladengedicht von Fernando Pessoa, die Tagebücher von Kafka.

Ein Ausflugsgepäck, schnell zusammengestellt.

Aus dem ersten Berliner Untermietzimmer zog ich wegen der eifersüchtigen Hausfrau gleich aus und dachte, alles wiederholt sich. Die Dachwohnung in der Mommsenstraße fand Benno. Von dort aus ging ich jeden Tag zu den Akademievorlesungen und kam zurück in das kalte Zimmer. Das Stipendium betrug vierhundert Mark. Mit sechsundreißig führte ich wieder ein Studentenleben, aß in der Mensa. Das Zimmer in Zagreb mit den Büchern und Bildern war wie verloren. Doch ich spürte, es ist gut so, vielleicht wirst du nicht einschlafen, wie manche deiner dortigen Freunde. Das hier ist mein Nordpol, und als erstes kaufte ich mir dicke Wollstrümpfe und einen dicken schwarzen Pullover.

Das Jahr 1966. Die Zeiten der Wanderungen. Auf den Bahnsteigen des Bahnhofs Zoo stehen die ersten Fremden, die »Gastarbeiter« mit ihrem Gepäck. Sie kommen zur Arbeit hierher, man ruft sie noch.

In der Stadt warten die Fabrikhallen, die Bänder, die Maschinen und die Wohnheime.

Die Studenten in unserer Filmakademie hängen eine rote Fahne durchs Fenster, wir haben keine Vorlesungen. Holger Meins, der später den Hungertod im Gefängnis sterben wird, steht vor uns und spricht übers Filmemachen als ein Mittel zur Durchführung der Revolution. Manche essen belegte Brötchen, manche hören ihm zu. Ich finde mich noch überhaupt nicht zurecht, sehe zu, schweige. Die Härte, die Verzweiflung, sie waren alle so sehr jung, die empfinde ich aber sehr stark.

1966. Zu dieser Zeit kommt mit dem Bus aus Sućurac auch Bosa Gregurević nach Berlin. Sie ist achtzehn Jahre alt und hofft auf die Zukunft. Sie wohnt mit den anderen Frauen aus Split und der Zagora im Heim in der Flottenstraße, der ehemaligen Munitionsfabrik, dem ehemaligen Heim für Zwangsarbeiter im Krieg, dem ehemaligen Heim für Flüchtlinge aus dem Osten. Die jungen Frauen wohnen in einem Zimmer zu viert, der Portier des Heims kontrolliert alles, auch wann die Frauen nach Hause kommen. Ängste, Unbekanntes. Eine Frau wird am ersten Tag krank, verliert die Fähigkeit zu sprechen, wird nach Hause zurückgeschickt. Das erzählt mir Bosa zwanzig Jahre später.

In Zagreb malt Stancić weiter seine bleichen Mondkinder und schickt mir nach Berlin die Fotografien der neuen Bilder.

Meine Mutter schreibt, daß sie Angst hat, allein auf die Straße zu gehen, in ihren Briefen Schleier der Melancholie. Die Schwester Nada heiratet, die andere Schwester, Vera, ist noch nicht fortgezogen nach Homburg.

Karin ist vier Jahre alt, sie backt kleine Kuchen im Sandkasten. Ein blondes Kind, sehr zart. Wie heute. Filippo Esteban und Claudio Lange wissen noch nicht, daß sie nach dem Putsch Chile verlassen werden. Ingrid, Claudios Frau, weiß es nicht.

Viculin, der Regisseur, mit dem ich fürs Zagreber Fernsehen Filme gedreht habe, sitzt im kleinen Café in der Dezmanova und spricht mit unserem Assistenten über den neuen Film, den sie zum ersten Mal ohne mich drehen werden. Beide lebten noch.

Die Studenten zünden nachts in Berlin die Lieferwagen der Springerpresse an. Rudi Dutschke lebte noch.

Djurdja schreibt mir aus Samobor, dem Waldgebiet, daß sie mich nicht vergessen wird.

Die Freunde Sanda und Angel bekommen den Sohn Kiril.

Das Leben pulsierte noch, obwohl die Nacht in der Mommsenstraße, in der Klaićeva, schon in sich zukünftiges Unglück, zukünftigen Tod barg. Wenn ich heute mit geschlossenen Augen den Kopf an das Fensterkreuz des Mansardenzimmers zum Süden hin lehne, sehe ich sie noch alle, sehe sie gehen, sprechen, lachen. Irena Vrkljan