»Einen Knacks holt sich jeder weg«

■ Drei Jahre kämpfte Horst Wichroski »draußen in der Wildnis« ums Überleben/ Ziellose Umtriebe/ Mit einer Obdachlosen-Selbsthilfeinitiative erkämpfte er sich ein Dach über dem Kopf

Köpenick. Horst Wichroski hat etwas mit der verwitterten Fassade seines Köpenicker Domizils gemein: in die Hände und das Gesicht des Fünfzigjährigen haben sich Spuren von Minusgraden und Feuchtigkeit gegraben. Horst kommt »von der Platte«. Wie alle Bewohner des Altstadthauses Kietz drei hat er Zeiten seines Lebens unter freiem Himmel, in S-Bahnen und auf öffentlichen Toiletten geschlafen.

Auf die Geschichte seiner Hausgemeinschaft ist Horst stolz. Sie klingt wie ein modernes Großstadtmärchen. Kennengelernt haben sich die Männer im Seeling-Treff, einer Obdachlosen-Wärmestube des Diakonischen Werkes in Charlottenburg Sommer 1990. »Bei belegten Broten und heißem Kaffee haben wir unsere verbliebenen Kräfte zusammengeschmissen, um von der Straße wegzukommen«, erzählt Horst. Die »Plattengruppe«, eine beispiellose Selbsthilfeinitiative, entstand.

Als im November vergangenen Jahres die Quecksilbersäule erstmals gen Gefrierpunkt tendierte, besetzte die Truppe kurzerhand ein leerstehendes Haus im Stadtteil Oberschöneweide. Die aufsässigen »Berber« hatten sich nicht nur eine halbwegs menschenwürdige Bleibe erstritten, ihre spektakuläre Aktion entzündete auch eine öffentliche Diskussion über den Mietpoker auf dem Berliner Wohnungsmarkt, bei dem immer mehr sozial Schwache passen müssen.

Die gewonnene Popularität half der Gruppe bei ihren Verhandlungen mit Behörden und der Köpenicker Wohnungsgesellschaft. Finanziell vom Senat für Soziales und dem Diakonischen Werk unterstützt, haben die Ex-Obdachlosen jetzt wieder ein ganz legales Dach über dem Kopf.

Kietz drei ist kein Idyll. Der Blick zurück auf seinen dreijährigen Überlebenskampf auf Berliner Straßen fällt Horst schwer. Immer wieder laufen seine Sätze zusammenhanglos und kaum mehr verständlich aus. Um Straßennamen und Jahreszahlen ringt er zumeist vergeblich. »Dat is die Unruhe, wa. Einen Knacks holt sich jeder weg, draußen in der Wildnis«, sagt der Obdachlosenveteran.

Der Alkohol ist es gewesen, der ihn Mitte der 80er Jahre aus der Bahn geworfen hat. Davon ist Horst überzeugt. Die weiteren Stationen sind typisch: in morgendlicher Katerstimmung beschloß er, »blau zu machen«, immer wieder besorgte er sich ärztliche Atteste, um seine Arbeit als Gabelstaplerfahrer in einer Lagerhalle nicht antreten zu müssen. Schließlich kam die Kündigung. Mittlerweile steckte Horst so tief im Suff, daß er gar nicht auf die Idee kam, Arbeitslosenunterstützung zu beantragen. »Keen Geld, keene Miete, wa«, sagt er. Die Folge: Der Vermieter setzte ihn auf die Straße.

Horsts »Revier« lag rund um den Busbahnhof am Funkturm. Frühmorgens schon machte die Gemeinschaftspulle die Runde. Besonders schlimm war es im Winter. Drei, vier tiefe Schlucke Schnaps, und die Sehnsucht nach Wärme und einer Dusche war auf ein erträgliches Maß zurückgedrängt. Langte das Geld nicht mal mehr für billige Betäubungsmittel, versuchte Horst einen Job als Möbelpacker oder Beifahrer bei einer Spedition zu ergattern. Klappte es, hatte er 60 oder 70 Mark in der Tasche.

Gerne hätte Horst auch als Schneeschieber bei der Stadtreinigung gearbeitet. »Aber dat ging nich', ick hatte ja keene Winterklamotten.« Mit tonloser Stimme erzählt er, wie ihn dieser Teufelskreis beinahe zur Verzweiflung getrieben hätte. Im Kaufhaus hatte es ihm eine warme Jacke besonders angetan. »Dann fängste an zu rechnen: du mußt wat essen, brauchst Zigaretten, paar Bier willste noch trinken, und morgen is' auch noch'n Tag.« Die Jacke blieb hängen.

Neben der Kälte hatte Horst noch einen Feind: die Zeit. Wochentags haben die Wärmestuben nur für ein paar Stunden am Nachmittag geöffnet. Was anfangen? Ziellos fuhr er mit der S-Bahn kreuz und quer durch Berlin. Dort war es zwar warm, allerdings beschlichen ihn auch quälende Gedanken: »Da siehste all die schicken Leute von der Arbeit kommen. Dann fühlste dich wie so'n abgestochenes Schwein, das gar nicht mehr reingehört in die normale Welt.« Immer mehr flüchtete Horst in die dumpfe Welt des Alkohols. Besonders abends, wenn der Kiosk am Busbahnhof dichtgemacht hatte, keine Fahrgäste mehr da waren und er die Treppen des Toilettenhauses hinabstieg. Die innere Unruhe verließ ihn nicht einmal im Schlaf: »Immer een Auge zu, een Auge auf, sonst haut dir eener wat vor'n Kopp, und du bist weg.«

Was ohne die »Plattengruppe« aus ihm geworden wäre, darüber möchte Horst gar nicht nachdenken. Er freut sich über seine mit Spenden möblierte Wohnung und sucht nach einer Arbeit. Zur Zeit lebt er von rund 1.000 Mark Arbeitslosenunterstützung im Monat. Mit seinem Zimmergenossen Harry versteht er sich gut. »Der kocht meistens für mich gleich mit«, erzählt er, »Heute gibt's Serbischen Bohneneintopf.« Ein Lächeln schiebt sich in Horsts Gesicht. Mathias Gröckel