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Rußland feiert auch ohne Brot

Die Versorgungslage vor den Feiertagen ist katastrophal/ Noch tragen es die Russen mit Gleichmut  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Der Kommunismus ist passé, aber das Sowjetreich eben auch. Das erfüllt die Russen noch mit Wehmut. Gerade an diesem Tag, dem 74. Jubiläum der Oktoberrevolution. Doch sie haben einen richtigen Anlaß zum Feiern, den 50. Geburtstag eines Arbeitskollegen. In Gorki Zwei, einem kleinen Ort 50 Kilometer hinter Moskaus Stadtgrenze, ist es wie in einer Zeitmaschine. Das Lokal versprüht den düsteren Charm der sowjetischen Siebziger. Die eiserne Miene der Kellner, die vom Rauch bordeauxrot gefärbten schweren Übergardinen und der immense Raum, der nicht genutzt, aber dennoch verplant ist. Und noch etwas erinnert an die alte „gesegnetere“ Zeit. Der Tisch biegt sich vor Köstlichkeiten: Lachs, Kaviar, Roastbeef, Zunge, georgische Hähnchen. Das meiste davon ist seit anderthalb Jahren in Moskaus Geschäften höchstens noch als verstaubte Attrappe anzufinden.

Am gleichen Tag im Moskauer Stadtzentrum ein erbärmliches Bild. Die Moskauer hasten, um sich für die langen Feiertage noch einzudecken. Ein Gerücht läuft um. Käse soll es in der Twerskaja, der hauptstädtischen Flaniermeile geben. Sofort bildet sich eine Riesenschlange vor dem Geschäft. Doch nein! Noch wurde nichts geliefert, wiegelt die Verkäuferin ab. Eine ältere Frau übernimmt die Organisation des reibungslosen Geschäftes mit der Illusion. Jedem Wartenden malt sie eine Nummer auf den Handballen. So ist Zeit gewonnen, um sich noch woanders anzustellen. Ein sowjetisches Paradox tut sich auf: die imaginäre Schlange. So kann es einem geschehen, daß man in einem Laden steht, in dem es etwas zu holen gibt, man aber nichts bekommt. Nicht etwa wegen der fehlenden Bezugsscheine, sondern wegen der Schlange, die es nicht gibt. Gerüchte über Lieferungen machen momentan überall die Runde. Tatsächlich traf in der Fleischerei um die Ecke dann doch noch etwas ein. „Sieben Rubel das Kilo“, flüstert die Frau in der Schlange, ohne von ihrem Buch aufzuschauen. Sie wird es noch durchlesen können, bis sie dran ist. Vielleicht reicht auch das Fleisch noch. Der Hinweis an der Wand verspricht jedem Käufer den limitierten Bezug von zwei Kilo Rindfleisch und einem Vogel. Doch die sind längst in wärmeren Breiten. Binnen Minuten ist das Geschäft bis auf den letzten Quadratmeter voll, bewegen kann man sich nicht. Nebenan wird Sahne verkauft, auch sie ist selten geworden. Die Portion für zweieinhalb Rubel. Das ist der offizielle Preis seit den Erhöhungen im Frühjahr. Der Preis blieb stabil, seither sind aber auch die letzten Waren aus den Läden verschwunden. In den Geschäften der Vororte zieren nur noch Preisschilder die Regale. Seitdem nichts mehr verkauft wird, hat sich der sonst leicht säuerliche Geruch in den Kaufhallen gelegt. Im „Leipzig“ warten die Menschen wie in der ganzen Stadt auf die Brotlieferung. Denn auch das ist knapp geworden. Trifft sie dann ein, kaufen sie, was sich tragen läßt, denn noch ist Brot nicht rationiert. Zur Verknappung kommt die künstliche hinzu. Dem Gruß zum Feiertag folgt am Telefon die Frage: „Und gibt es Brot bei Euch?“ Das gleiche gilt für Milch. Nach anderem fragt man ja schon gar nicht mehr. Zucker, Zigaretten und Schnaps erhält man sowieso nur über „Talone“, die Bezugsscheine. Ein Anschlag am Kutusowskij Prospekt weist die Pilgerkäufer daraufhin, daß die Talone von Juni bis Oktober bis zum Ende des Jahres gültig bleiben. Sie ließen sich schlichtweg nicht einlösen. Ein Aushang daneben tut kund, Back- und Konditoreiwaren sind nur noch auf Zuckerbezugsschein erhältlich. Eine überflüssige Maßnahme eines überkorrekten Bürohengstes, der sich mit der Verwaltung des Nichts beschäftigt. Vielleicht hat er es aber auch gut gemeint.

Hundert Meter weiter wärmt sich ein Haufen Volk in der mäandernden Alkoholschlange. Feiertage ohne Wodka, ist wie eine Hochzeit ohne Braut. Nur nebenan läuft es zügiger. Auch hier wird Wodka ausgegeben. Allerdings nur, wenn man seine „Bedürftigkeit“ ausweist und an der Wand steht's geschrieben: „Für den Tag der Beerdigung“ gibt's zwanzig Flaschen Wodka.

Noch tragen es die Russen mit Gleichmut. Hier und da fällt mal ein gereiztes Wort. „Auch die Demokraten kriegen es nicht auf die Reihe“, doch es ist gesagt und schon vergessen. Die Drumherumstehenden pflichten nicht bei wie früher, als hätten sie nur auf das Stichwort gewartet, um sich Luft zu machen. Die Ankündigung der Jelzinregierung hat ihnen nicht viel Hoffnung gelassen. Noch enger werden sie den Gürtel schnallen müssen. Die Preise würden demnächst freigegeben, die Löhne aber nicht wie in den Vorjahren der Teuerung angepaßt. Die Inflation galoppiert, und viele werden vom Pferd fallen, bis Reformen irgendeine Wirkung zeigen. Das Schlimmste bei alledem: Die Menschen verstehen nicht, warum es so ist. „Wir arbeiten doch genauso wie früher“, beklagt sich eine alte Frau.

Die landwirtschaftliche Erzeugung liegt niedriger als in den letzten fünf Jahren. Dennoch hätte sie genug produziert, um das Land zu versorgen, meldete die 'Rossiskaja Gaseta‘. Doch die Kolchosen und Staatsfarmen halten ihre Liefervereinbarungen nicht ein. Für den Rubel können sie nichts mehr kaufen, und die Gegenleistungen in Industrieerzeugnissen bleiben aus. Nur etwa zehn Prozent der erforderlichen Waren kamen auf dem Lande an. Erst am Tag der Geldreform werden sich die Regale wieder etwas füllen. Zum letzten Mal begingen die Russen den Tag der Revolution. Den Ausblick in eine lichte Zukunft verbindet mit ihm noch kaum einer.

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