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ATLANTIS BERLIN Von Mathias Bröckers

Der verkehrsreichste Platz Europas — solange die Mauer stand, war diese Formel als nostalgisches Kontrastmittel zur Land's-End-Atmosphäre des Potsdamer Platzes erlaubt. Daß man sich heute, bei der Planung der Neubebauung, an sie erinnert — nicht als Horrorvorstellung, sondern als Handlungsanweisung —, verspricht die erste städtebauliche Katastrophe des nächsten Jahrhunderts.

Julius Posener, der Doyen der Berliner Architekten, wußte zu seinem 87. Geburtstag vergangene Woche im Planungschaos um den Potsdamer Platz zumindest einen Lichtblick zu entdecken: „Man sollte den Streit nutzen, um den Wettbewerb für ungültig zu erklären, und noch einmal von vorne anfangen.“ Dabei könne dann auch die notwendige Reihenfolge eingehalten werden: „Erst denken, dann bauen.“

Tatsächlich scheint es bisher allemal andersherum gelaufen zu sein — vom hektischen Verkauf des Grundstücks an Daimler-Benz angefangen bis zu dem im halbdemokratischen Wettbewerb prämierten Entwurf, der, man glaubt es kaum, ohne irgendein Verkehrskonzept daherkommt. Und auch der Gegenentwurf des von Daimler ins Werk gesetzten Stararchitekten Rogers, der Autos und Bahnen fünfstöckig unter die Erde verfrachten will, läßt das Verkehrschaos an den Tunnelausgängen einfach außer acht. Man baut halt legoartig vor sich hin, ein Büroturm hier, ein Verwaltungskasten da — das Denken, etwa an die Tatsache, daß man im Zentrum einer Metropole keine neuen Großbetriebe ansiedeln kann, ohne den totalen Verkehrsinfarkt zu garantieren —, solch naheliegendes Denken hat gegen die Berliner Bauwut keine Chance. Und so wie die logischen Konsequenzen ignoriert werden, so wird auch das Pendant praktischer Vernunft, die Phantasie, ignoriert: Für innovativen, visionären, zukunftsweisenden Städtebau ist in Berlins Mitte kein Platz.

Die zum Wettbewerb eingereichten Modelle sind im ehemaligen Hotel „Esplanade“ zu besichtigen: ein erschütterndes Dokument der Gedankenarmut und Phantasielosigkeit. Und entsprechend ist das Niveau der gesamten Diskussion — als „Posemuckel“ hat der Daimler-Manager Kleinert diese Kleinkariertheit denunziert, doch was Rogers Entwurf dagegensetzte, ist allenfalls „Ober“- oder „Mega-Posemuckel“, aber keine Alternative. Gleich ob man jetzt nach dem Plan der Wettbewerbssieger Hillmer/Sattler, dem Rogers-Entwurf oder einem Kompromiß zwischen beiden baut — im Grunde ist schon klar, wie es werden wird: grauenvoll.

Welche Gedanken müßten kommen, wenn die von Julius Posener eingeklagte Reihenfolge „Erst denken, dann bauen!“ eingehalten würde? Zuallererst wohl der, daß es die Diktatur des Auto-Terrors — Paris, New York, Mexico City usw. — unter allen Umständen zu vermeiden gilt. Haben sich die planenden Gehirne aber erst einmal vom Auto befreit, können sie sich wieder an dem orientieren, was für den Menschengeschmack einfach eine schöne Stadt ist: Lissabon etwa oder Dubrovnik, das gerade bombardiert wird, oder das neue Atlantis, wie es der Architekt Leon Klier halluzinierte (s.o.).

Die Atlanter, so der Mythos, gingen an ihrer Hybris zugrunde — sie hielten sich für die Größten und wurden mit Untergang bestraft. Für Berlin, um es etwas pathetisch auszudrücken, gilt: es wird untergehen, wenn es in seiner Mitte nicht mindestens so etwas wie Atlantis baut.

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