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■ Die Dinge laufen ins Leere * "Denker der Zeit Jean Baudrillard"; Sonntag, 21.10 Uhr, N3
Das Video-Double macht's möglich: Während oben der Tatort seinem blutigen Ende zusteuert, wird unten ein Porträt des Soziologen Jean Baudrillard mitgeschnitten. Was dann folgt, wäre für den Paläontologen des Medien-Ungeheuers einmal mehr bezeichnend für die Allgegenwart des Simulations-Monsters: Man sieht sich noch den Schluß des Porträts an und spult dann zurück, um den Anfang nachzuholen. Macht es keinen Unterschied, in welcher Reihenfolge wir den Output der Medien wahrnehmen? Baudrillards Diagnose: Medien sind die Kommunikation des immer gleichen, die Eliminierung der Differenz — es macht keinen Unterschied: „Die Dinge laufen noch, aber wir wissen, daß sie in's Leere laufen.“ Steckt hinter dieser These von der großen Leere hinter der Hyper-Simulationen der Medien, der Technik, der Politik nicht die Sehnsucht nach der guten alten Realität? „Ich bin kein Nostalgiker“, sagt Baudrillard, „und auch kein Pessimist, eher schon Melancholiker.“ Noch lieber aber würde er sich als „Metaphysiker“ bezeichnen, wenn das nicht gleich wieder so vornehm klänge, deshalb lieber „Pataphysiker“. Damit ist eine der Traditionen Baudrillards, denen Burghard Schlichts Porträt nachspürt, benannt: als Pataphysiker bezeichnete sich einst der Früh-Dadaist Alfred Jarry. Eine weitere, wesentliche Tradition ist '68: In Nanterre, einem der Siedepunkte des Mai 68, war Baudrillard Assistent für Soziologie — und in der Plötzlichkeit der Revolte liegt so etwas wie der Grundstein seiner Methode: die Befreiung vom ideengeschichtlichen Denken. Die Ereignisse sind einfach schneller, um sie intellektuell noch zu fassen, bedarf es weniger eines historischen, als eines situationistischen Denkens. Daß die breitärschige Philosophie und das Feuilleton in Deutschland auf derlei Befreiungen vom Methodenzwang naserümpfend reagierte, konnte die Rezeption Baudrillards nicht verhindern. Akademischerseits als „Modephilosoph“ und „Überflieger“ abgetan, setzte er sich quasi von unten durch. Die ersten, die Baudrillard lasen, waren Künstler, Rock-Musiker, die kreative Sub-Kultur. Vor diesem Hintergrund macht Burghard Schlichts These, daß Baudrillard der vielleicht letzte Denker sei, der den antiautoritären Geist von '68 weiterträgt, Sinn. Der Gruft der Nachlaßverweser der Frankfurter Schule ist seit 20 Jahren auch nicht das kleinste Fünkchen dieses Geists entsprungen.
Und was ist von Baudrillard in Zukunft zu erwarten? Es wäre interessant, wenn er den Vorschlag von Heiner Müller umsetzte: „Baudrillard sollte einmal nach Sibirien fahren, statt immer nur nach Kalifornien. Es wäre interessant zu erfahren, ob die Computer dort Wodka trinken.“ Mathias Bröckers
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