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Denn Sie wissen nicht, was Sie sehen

■ Auf der großen Straße von Tschechow zu Berlin

Soll ja vorkommen. Sie sitzen im Theater und wissen nicht, was Sie sehen: irgendwas mit Tschechow oder nach Tschechow, jedenfalls nicht nur von ihm. Ein Kessel Buntes, der sich schon noch öffnen wird. Das Programmheft ist vergriffen, Sie wissen immer noch nicht, was Sie sehen. Die Bühne doch: eine graue Betonwand, Rückwand eines öffentlichen Gebäudes, vielleicht ein Bahnhof. Verweis: Koffer. Auftritt: eine ältere Dame, eher ein altes Mädchen mit schriller Stimme, ich nenne sie später die Frömmlerin. Zwei Deppen, einer kurz und breit, der andere lang und dünn. Ein alter Mann, der in seinem langen Gewand und mit seinem edlen Gesicht aussieht wie ein römischer Senator. Ein junger Mann mit Zopf, Hut und zu kurzem Anzug, also ein armer Mann, ein Clown. Versucht sich eine Zigarette anzuzünden, kein Streichholz tut's, am Ende wirft er die unangezündet gebliebene Zigarette auf den Boden und tritt sie aus. Er hat eine junge Frau, die zunächst mit dem Rücken zum Publikum auf einem erhöhten Podest an einer anderen Wand sitzt. „Nach Moskau, nach Moskau“ echot es durch die Münder, den Raum. Die Unterhaltung, frei nach Tschechow (eine dramatische Skizze) und nach Schnauze (der Regisseur, sein Dramaturg), bleibt absurd. Zwei Lebemänner tauchen auf, der eine hat 'ne Kneipe und Schnaps, der andere kein Geld, der braucht Schnaps. Darauf antwortet der alte Mann: „Ich bin Vegetarier.“ Sagt die Frau: „Und was wird dann aus den Schweinen?“

Weiß ich nun, was ich gesehen habe? Kommt der Landstreicher, ein kluger Mann, der den Wirt dazu bringt, ihm die Stiefel auszuziehen. Weil er ihn anbrüllt. Rollenspiel. Weil auf einmal alle brüllen, Imitation. Gruppenprozeß. Später heißt es: Der Sozialismus ist eine Form der Erregung. Und danach die Depression.

Sag einfach, schreib doch, was du gesehen hast. Was dir im Ohr geblieben ist. Die Geschichte, die sich dann doch irgendwann entspinnt: nicht maßgeblich. Der ungarische Regisseur András Jeles hat kürzlich gesagt, Tschechow habe das Trauma des Sozialismus vorweggenommen. Das kam mir schon damals komisch vor. Sabine Seifert

Auf der großen Straße von Tschechow: Regie: Horst Hawemann. Bühne: Martin Fischer. Mit Bodo Krämer, Gerd Preusche, Susanne Düllmann, Heide Kipp, Anett Kruschke, Peter René Lüdicke. Volksbühne am Rosa- Luxemburg-Platz, Berlin. Weitere Aufführungen: am 15., 16. und 21. November.

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